Hugo Ramnek - Bachmann Bimbamtag 1

Kettenkarussell

Erneut lese ich einen Generationen-Text; einen Text der 1960er Geborenen; kein Wunder auch Ramnek zählt zu dieser Altersgruppe. Es gibt nur einen Unterschied, sein Text ist auch in einen sozial-politischen Kontext gestellt.

Es geht um Gegensätze - die auf dem Dorf und jene im Städtchen. Die einen finden sich diesseits der slowenischen Grenze in Kärnten die anderen jenseits. Allerdings wird dieser Kontext im Text nicht weiter herausgearbeitet.

Der Text arbeitet dagegen sehr schön das Coming-Out-of-Age, das Erwachsen werden, die Pubertät, die erwachende Sexualität eines Jugendlichen heraus während eines dreitägigen Jahrmarkts, der tagebuchartig im Text beschrieben wird.

Auf dem Weg zur Tierschau begegnet er der Mutter des Albinos. Während sie sein Zimmer macht, singt sie slowenische Lieder. Das Kellertier hinterlässt nachts Spuren. Hat die Aufräumerin etwas gesehen? Die Eltern dürfen nichts ahnen von der Echse im Haus. Er grüßt und wird rot. Zwei Mädchen aus seiner Klasse stehen kichernd bei einem
Wärter, eine Schlange windet sich um den Arm mit dem eintätowierten Bikinigirl. Er ruft ihnen zu, für sie ist er Luft.


Soziale Differenzen und Spannungen, Gerüchte und Vorurteile über das Andere, die Anderen entladen sich in Textstellen wie diesen:

Er bemerkt neben sich den Albino. Der Weißhaarige ist ein Wiesenmarktkind, behaupten sie im Städtchen. Sein Vater hat in derselben Nacht noch eines gezeugt, vorher, mit einer von unten, die wohnt gleich hinter der Grenze. Sie schauen hinauf zu den Angeketteten. Das passiert, wenn man sich nicht beherrschen kann, hat Mutter gesagt – mit diesem Blick.

Insgesamt ein toller Text, der rasant erzählt, viele Metaphern und Sprachbilder einbaut, assoziativ wirkt und seine[n] Leser[in] zum Nachdenken anregt:
Was meint er mit dem Kellertier, das im Text immer wieder auftaucht?
Wofür steht das stumme Krokodil, das Gott gleich über allem hoch droben thront?
Die Auflösung bringen später die Juroren, die ja den Text schon mehrfach gelesen haben [müssen], während unsereine, ihn nur einmal Zeit lesen kann.

Was mir weniger gefällt, ist die mitunter martialische Sprache, die in mir eher Bilder an die Verarbeitung des Krieges wach werden lassen. Oder verarbeitet der Autor hier, als er ein an sich harmloses Kirmesfeuerwerk beschreibt, unbewusst die kollektive Erinnerung an die Kriegsbomben seines – unseres – Vaters Generation?

Wie die erste Rakete am Himmel explodiert, lehnt das Mädchen vor ihm den Kopf an seine Brust. Stets von Neuem schießen Granaten in die Höhe, zerplatzen in der Luft mit scharfem Knallen und schweben als Allfarbenfall hernieder. Sie senkt ihren Hinterkopf auf seine Brust, schaut in das bunte Schwirren über ihr und hebt ihn wieder, sobald die Erleuchtung vorbei ist. Auch er lehnt sich an jemanden hinter ihm, ganz leicht nur, er spürt den männlichen Körper deutlich undeutlich, er wittert den Geruch. Während ein Blindgänger kläglich im Nachthimmel verzischt, kriegt er einen Schlag
von hinten gegen die Kniekehle und knickt fast ein.


Interessant finde ich, dass keiner der Jurorinnen und Juroren diesen Aspekt der kollektiven Kriegserinnerungsverarbeitung zu bemerken scheint.
Stattdessen sieht Winkels einen „sehr intensiv erzählten“ Text, vermittelt durch Kurzatmigkeit, Tempo und sehr gut gelesenem Vortrag, einen Text mit „überschaubarem Personal“ und sehr starken symbolischen Bezügen. Die Kellerechse sieht er als „sexuelles Symbol“; das ihm jedoch zu häufig auftaucht und daher „zu viel des Guten“ ist.
An der „Kellerechse“ stört sich auch Strigl. Der „innere Hund“ sei hier „die Echse“ als literarischer Ausnahmezustand, der versucht den Ausnahmezustand im Dorf und Städtchen in den Worten des Jahrmarktfestes zu beschreiben.
Caduff fragt sich, was ein literarischer Text über das Thema Heimat und Fremde zu einem Diskurs, der gerade überall präsent ist, noch beitragen kann?
Zudem sieht sie in der überladenen Symbolik des Textes eine Belastung. Dieser Text strapaziere zu sehr – sie nennt es – „Wort“-Grenze: die Romeo- und Julia-Konstellation in den Bergen; der Dorf-Stadt-Gegensatz, auch die Echse und das Krokodil gehören dazu. Sie fragt: was für ein Anliegen hat der Text tatsächlich?
Jandl hilft ihr dabei auf die Sprünge, indem er in der „Kellerechse“ auch das politische Ungeheuer der Keller-Nazi sieht. Das Hauptproblem des Textes sieht er jedoch darin, dass der Text wie seine Überschrift andeutend selbst zum „literarischen Rummel“ durch die „zahlreichen Enthusiasmierungen und Wortschöpfungen“ generiert.
Feßmann wiederum gefiel das „Wort-für-Wort-gesetzte-Schreiben“. Doch auch sie kritisiert die Symbolarbeit mit der „Echse“ als „zu sehr aufdringlich“. Eigentlich seien Symbole dafür da, etwas zu maskieren, etwas eben nicht auszusprechen. Aber hier springt einen das Sexuelle überall an und sei so aufdringlich und werfe einen als Leser heraus.
Spinnen wirft einen neuen Ball ins Spiel der Kritiker: „Ist das nicht einfach ein Text, der schön sein will?“ fragt er. Und weiter: „Haben wir nicht automatisch Vorbehalte gegen Texte, die sprachliche Schönheit vorführen wollen, mit Wortschöpfungen, die wir aus dem Barock kennen?“ Vielleicht reagiere man so empfindlich, weil wir was sprachlich schöne, barocke Wortschöpfungen betrifft, wir uns derzeit in einer Talsohle befänden. Es sei ein Text, der einen Jahrmarkt Mitte der siebziger Jahre, um 1975 herum, wie ein impressionistisches Sprachgebilde nachzeichnet. Das hat den Juryvorsitzenden beeindruckt.
Keller unterstützt diese Sicht der Dinge und legt nach, dass auch ihr „das Expressionistische“ des Textes sehr gut gefiel und sie fragt [beinahe rhetorisch]: Würde man dies einem expressionistischen Maler vorwerfen? Dass er mit kräftigen Farben malt? Obwohl er sonst nur Aquarelle malt?

Zuguterletzt
Aufgefallen ist mir, auch jetzt im Nachhinein, dass dies von allen am ersten Tag gelesenen Texten derjenige war, bei dem das Publikum am längsten und lautesten applaudierte, selbst nach der Jurorenkritik!
DER Publikumsliebling des heutigen Tages also?
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