Ai-Ei-Ei

Flußkrebse

Die Reisefreiheit ist eines der höchsten Menschen[rechts]güter.
Sie ist Ausdruck des Selbst und seiner [eigenen] Bestimmung: Frei darüber entscheiden zu können, an welchem Ort der Welt sich eine[r] aufhalten möchte, wo sie oder er hingeht und wie lange man dort verweilt. Vor allem: OHNE die Frage nach einem WARUM. OHNE Angabe von Gründen! OHNE REDE und ANTWORT stehen zu MÜSSEN! VOR wem oder gegenüber WEM auch immer!
Dieses Selbstbestimmungsrecht zu beschränken, ist eine Form von Freiheits-Entzug. Niemand kann das wohl so gut nachempfinden als wir Deutsche.

Derweil ist die Reisefreiheit für uns HEUTE – 25 Jahre [!] – nach dem Fall der Mauer, so selbstverständlich, dass uns diese Freiheit im Alltag gar nicht mehr "bewusst" ist bzw. wir sie bewusst zu schätzen wissen. Es sei denn, es wird einem ein solcher FREIHEITS-ENTZUG wieder einmal vor Augen geführt: An einem Ort, zu welchem man sich selbst [bestimmend] spontan entschied, hin zu reisen. Mit der Bahn. Für 49 Euro. Fünf Stunden 45 Minuten hin. Und wieder zurück.

Dazwischen.

Schauen.
Still. Stehend. Sehr beklommen. Sehr beeindruckt.

Staunen.
Wie einer, dem man den Reisepass abgenommen, in der Lage sein kann, aus der Ferne einen Ort zu gestalten, welchen er noch nie gesehen, dessen Gebäude mit seinen Räumlichkeiten, seinen Ausmaßen er nicht kennt.
Und dann... eine solche Schau entfalten zu können!
Mit welcher räumlich-visuellen Vorstellungskraft ist dieser Mensch gesegnet!?

[NICHT!]Sehend gestalten:
3000 Quadratmeter. 18 Räume.
Ohne sie selbst in Augenschein genommen zu haben.

[BISHER!]Auch nicht im Nachhinein!
Das eigene, speziell für diesen Ort Geschaffene selbst anschauen zu können.

Das ist eine enorme Leistung an sich!
Auch wenn einem andere dabei halfen: Wenn der eine durch die Augen der anderen das Sehen gelernt oder moderne 3-[CA]D-Computerprogramme einem dabei halfen.

Ein Beweis an sich.
Dass der Freiheits- und Selbstbestimmungswille nicht zu bändigen ist.
Dass in der Fantasie vieles möglich ist und die eigene Ausdruckskraft ihren Weg findet.
Welch Glück!
Sonst würde mir, uns, diese "Evidenz“ nicht vor Augen geführt!

Insofern ist der Titel jener großen Ausstellung in Berlin von einem der größten Freiheits-Kämpfer unserer Zeit auch im doppelten, verdeutschten Wortsinn mehr als treffend gewählt:
Ai-WeiWei – Evidence

Obwohl dieses Wort, "Evidence", nach seinem originärem amerikanischen Ursprung (in US-Krimi-Serien) eigentlich den "möglichst gerichtsfesten BEWEIS“ bezeichnet.

Ein Wortspiel im Zauberkleid und somit mehrfach gewandetem Sinne:
Ein Beweis für uns Betrachter, den Besucher dieser Ausstellung im Martin-Gropius-Bau.
Ein Beweis für den Künstler, der sich damit sicher auch von erlittenem Unrecht und von Seelenqualen befreit und auf die Menschen unwürdige Unrechtsbehandlung hinweist. Ausdruck stillen Protests. Sozusagen.
Auch: Auflehnung gegen die Willkür einer höheren, von anderen [!] Menschen, [aus–ge-übten]Macht!
Und [jenen] hoffentlich kein Beweis [für neuerliche Willkür]!

Allerdings könnte man diese Ausstellung auch als ein Gespräch lesen.
Als Gespräch von einem, dessen Menschen-Recht – auf [nicht nur!] freies Reisen – zwar beschränkt [worden] ist, der sich durch seine Raum-Installationen jedoch uns mitteilt: Über die Art, wie er in Gedanken und in seiner Vorstellungskraft reist. Der uns seine Welt, die Traditionen und das Leben wie auch die Gesellschaft und ihre Themen durch die Art und auch Weise der Bearbeitung jener ausgestellten Objekte mitteilt.

Es sprengte den Blograhmen, nun zu jedem einzelnen Objekt zu schreiben…
Obwohl es für sich genommen, mehr als wert wäre, dazu eine bloggende Installations-Artikel-Reihe zu schreiben, weil es zu jedem dieser achtzehn gestalteten Räume und ihren Kunstobjekten, ihren Kunstformen und Video-Installationen viel zu sagen gäbe…

Herausgreifen möchte ich Kunstobjekte, die mich am meisten beeindruckten oder emotional bewegten!

Der höckrige Lichthof
Dazu zählt die wohl am meisten fotografierte Installation dieser "Evidence“-Ausstellung: Sehr beeindruckend ist der Lichthof mit den sechs Tausend Stühlen aus der Zeit der Ming-Dynastie.

Der schon für sich spektakuläre Lichthof des Gropius-Bau. In seine Raummitte montierte der Künstler 6.000 einfache Holz-Hocker, wie sie in China bereits seit der Ming-Zeit millionenfach auf dem Land verwendet werden.

Sehr beeindruckt hat mich, mit welchen Mitteln, mit welchen Materialien und auf welche Art und Weise es Ai Weiwei gelingt, seinem gesellschaftlichen oder politischen Protest Ausdruck zu verleihen:

Die Schuldschein-Tapeten
2011 behaupteten Funktionäre, Ai habe mit seiner Firma Steuern hinterzogen. Die Behörden forderten ihn auf, binnen fünfzehn!) Tagen (umgerechnet) 1,7 Millionen Euro an ausstehenden Steuern und Bußgeldern zu begleichen. Dies löste eine weltweite Solidarisierungswelle mit dem Künstler im Internet aus. Innerhalb von nur zehn Tagen brachten 30.000 Netzbürger eine Summe von über einer Million Euro zusammen, damit er „seine Schuld“ begleichen konnte. Damit das Ereignis (und auch die Willkür dieser staatlichen Maßnahme) nicht vergessen wird, gestaltete Ai Schuldscheine von 26 auf 37 Zentimetern, die aus zwei Hälften bestehen. Mehrere Räume der Ausstellung zieren ganz besondere Tapeten: Sie sind ausgekleidet mit Schuldscheinen.
Der Geldverleiher erhielt die rechte Hälfte, auf der sich die Nummer des Schuldscheins, der Name des Geldgebers, die geliehene Summe, Ai Weiwei`s Stempel und Unterschrift befinden sowie eigens entworfene Marken, deren „Wert“ der geliehenen Summe entspricht. Der Künstler behielt die linke Hälfte mit dem Kontaktdaten (Name und Adresse) des Geldverleihers. Für die Ausstellung in Berlin hat der Künstler aus diesen Schuldscheinen eine Tapete gestaltet, mit der mehrere Ausstellungsräume tapeziert worden sind. Eine ungeheuerliche Wirkung, die sich entfaltet, wenn man einen solchen Raum betritt.

Die DIAOYU Inseln
Von besonderer Ausdrucksstärke empfand ich diese in Marmor gemeißelte Arbeit. Sie zeigt die Inseln des kleinen Archipels im ostchinesischen Meer, um die zwischen China und Japan ein heftiger Territorialstreit entbrannt ist. Marmor-Schicht auf Marmor-Schicht häuft Ai Weiwei den geopolitischen Konflikt in einer dreidimensionalen figürlichen Abbildung dieser Inselgruppe, um die ein blauer PVC-Teppich, der das Meer symbolisiert, den Besucher herumführt. Schilder weisen einen an, dass es „verboten“ ist, diese „Meeres“Strömung zu verlassen, will man nicht zwischen die [geopolitischen]-Fronten geraten. So bleibt jeder brav auf dem Teppich und erkennt beim bloßen Hingucken der Terassen förmigen Aufschichtung der einzelnen Inselchen die dahinter steckende Vielschichtigkeit dieses immer noch nicht beigelegten Streits zwischen zwei Staaten. Nur einen arglosen, um nicht zu sagen naiven Besucher, mögen diese Inseln an Reisterrassen erinnern.
Für mich eine raffinierte Kodierung, die der Künstler in seiner Formen[An]sprache verpackt – vermutlich auch aus Eigenschutz vor seinen Überwachern. Lange stand ich davor und fotografierte aus unterschiedlichen Perspektiven, immer wieder NEUES entdeckend.

Die HAN-Dynastie Vasen
Sie symbolisieren für mich den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne und den Zwiespalt, in dem [nicht nur die chinesische, sondern] jede Gesellschaft steckt, die in den Sog einer kapitalistischen Industrialisierung und ihrer damit verbundenen grundlegenden Veränderung durch Kommerzialisierung und Verlockungen des Konsums gerät.
Acht antike Vasen aus der Han-Dynastie [202 vor Christus bis 220 nach Christus], die in metallisch glänzende Autolackfarben getunkt wurden, zieren die Mitte eines der kleineren Ausstellungsräume. Das beeindruckend Besondere daran [falls jemand unter Ihnen sagte: „Ja… und? Sind doch nur alte Vasen!“]: Die metallisch schimmernden Farben sind identisch mit den tatsächlichen Standard-Autofarben, die aktuell die Automarken [v.a. deutscher Hersteller] im chinesischen Stadtbild dominieren. Einerseits ein krasser Gegensatz zu den uralten Vasen. Andererseits wird unter dem Lack der modernen Konsumwelt zugleich das Alte „bewahrt“. Ein interessanter Kontrast, weil sich ein Besucher auch fragen könnte, was und wie viel an traditioneller Kultur unter dem dünnen Deckmantel der Moderne[n Lackierung] nicht doch bewahrt werden könnte!?

Die Video-Arbeiten über Peking
Sie zeigen besonders krass den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne und vor allem den Umgang mit der Kultur und der Umwelt in einer zentralistisch gesteuerten Gesellschaft. Von 2003 bis 2005 dokumentierte der Künstler die Folgen der Veränderung der urbanen Infrastruktur, ihrer Umwelt und ihrer sozialen Verhältnisse, indem er jede einzelne Straße innerhalb der vierten Ringstraße Pekings befuhr und das Aussehen dieser Straße auf Video festhielt: 2400 Kilometer und 150 Stunden Videomaterial kamen so zusammen. Die Videofilme, die im „Cinemascope-Format“ in zwei Ausstellungsräumen anzuschauen sind, dokumentieren wie ein verantwortungsloser Umgang mit dem Städtebau das alte Gesicht chinesischer Städte verändert: Weg von der Privatheit eingeschossiger und verwinkelter Bauten mit verspielten Dächern hin zum großflächigen, Wolken kratzenden Einheits- und Massen-Wohnungsbau mit anonymen, sterilen und den einzelnen isolierenden Wohnzellen. Hand in Hand einhergehend mit der Zerstörung der Umwelt: Dauersmog durch Rauch- und Abgas geschwängerte Wolken, die sich tief in die Häuserschluchten einhängen und ganze Wohn- und Stadtviertel schlucken. So dass heute beim Blick von einer der vielen Brücken auf eine zwölfspurige Stadtautobahn nur die vordersten Häuserblöcke, die links und rechts den Straßenrand säumen, sichtbar sind. Während das Häusermeer am fernen Horizont in graugelben Wolkenschwaden versinkt und nicht einmal mehr schemenhaft zu erkennen ist.

Im krassen Gegensatz dazu macht Ai`s Kameraauge sichtbar, wie zehn Jahre vor dieser großen Konsumrevolution dieselbe Gegend aussah: Kleine verwinkelte Gässchen, gesäumt von einfachen, manchmal auch windschiefen Häuschen. Menschen, die einen zu Fuß oder mit Handkarren entgegen kommen oder auf dem Fahrrad überholen, während das Auto, aus dem die Videoaufnahmen gemacht werden, vor der Präsenz seiner entgegenkommenden Bewohner zurückweicht. Und… auch zu sehen: Menschen, die vor dem hellen Sonnenschein, im Schutz einer Baumallee ihre Einkäufe erledigen.
Tatsächlich!
Auf diesen Aufnahmen scheint die Sonne und das Blau des Himmels ist sichtbar.
Eine vielschichtige urbane Collage, die den gesünderen Rhythmus einer früher individuellen, kulturell vielfältigen Stadt und ihre monumentale Veränderung aufgrund einer sozialistischen Stadtentwicklungsplänen entsprechenden Infrastruktur und einer zentralistisch gesteuerten Wirtschaftsentwicklung zeigt.


Auflösung im Nichts
Mutig wie auch beklemmend die vom Künstler original nachgebaute Gefängniszelle, in der er 81 Tage an einem geheimen Ort festgehalten worden war. Ein durch und durch mit Schaumstoff verkleideter Raum – alle Wände wie auch alle Möbelstücke schaumstoffumhüllt. Selbst die Toilette, auch das Waschbecken, der Wasserhahn oder der Stuhl, auf dem er mit Handschellen angekettet saß. Rund um die Uhr brannte dort das Licht, das den weißen Schaumstoff so reflektiert, dass einer selbst nach nur dreiminütigem Aufenthalt in jener 7,2 mal 3,6 Meter kleinen Zelle, den Eindruck hat, als entmaterialisiere sich alles um einen herum und löse sich nach und nach im Nichts auf. Zudem bewachten ihn im Drei-Schichten-Rhythmus zwei Wächter, die direkt vor seinem Bett saßen.
Als "pervers“ und "geschmacklos“ empfand – nicht nur - ich jene Besucher, die Sensation heischend nichts besseres zu tun hatten, als im Innern wie auch von außen durch den winzigen Schlitz, der als Fenster diente, mit ihren Smartphones Videos aufnahmen. Was in einigen von uns Betrachtern unweigerlich den Reflex auslöste, so einen Besucher selbst in einem solchen Verließ 81 Tage festhalten zu wollen… „auf dass dem das Filmen ein für allemal vergehe“, ärgerte sich laut eine andere Frau neben mir, derweil man wieder hinaustrat aus der stickig schwülen Zelle, in die nicht mehr als fünf Besucher gleichzeitig von der Museumsaufsicht hinein gelassen werden.

Schließlich...
Unsereins war froh, hernach wieder die frühlingsmilde Berliner Luft zu schnuppern.

Dabei fiel uns auf, dass für diese – mitunter beklemmende, weil teilweise schonungslos biografische Ausstellung – ein sehr treffender Ort gewählt ist.... denn...

...nahe des Martin-Gropius-Bau liegt das ehemalige Gestapo-Hauptquartier und keine dreißig Fußschritte von der "Evidence“-Ausstellung entfernt, ihr Erinnerungsort: die "Topografie des [Nazi]Terrors“.
Diesen Namen trägt heute das Gelände, auf dem sich zwischen 1933 und 1945 die Haupt-Einrichtungen des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Terrorapparates befanden. In einer kostenlosen Dauerausstellung kann man sich dort über die Formen des Nazi-Terrors und seiner Helfershelfer, die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die Reichsführung SS, den damaligen Sicherheitsdienst der SS sowie das Reichssicherheitshauptamt informieren.

Nicht minder beklemmend!

Das Foto zeigt das Ausstellungsplakat von Ai Wei Wei`s Ausstellung Evidence in Berlin. Sie wird bis 7. Juli 2014 im Martin-Gropius-Bau gezeigt.
4650 mal gelesen
Sani (Gast) - 7. Mai, 05:55

Ihr Bericht hat mir die Nachtwache verkürzt. Bitter, dass er seine eigene Ausstellung nicht besuchen kann, weil sein Staat ihn nicht ausreisen lässt.

Teresa HzW - 9. Mai, 22:47

Das ruft einem den Wert der Reisefreiheit und die Bedeutung eines Passes wieder einmal ins Bewusstsein! Falls Sie die Möglichkeit haben, dann "reisen" Sie zur Ausstellung, liebe Sani ;-)

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