Andreas Stichmann - Bachmann Bimbamtag 1
Der Einsteiger
Auch bei Andreas Stichmanns Text verschwimmen Realität und Phantasie, vermischen sich Wirklichkeit und Traum, Wahrheit und Fiktion im Bimbam der Worte. Insofern passt das Motto dieses Bachmann-Bewerbs auch sehr gut auf diesen Text oder umgekehrt.
Eigentlich handelt die Geschichte von einem, der bei anderen Menschen ins Haus einsteigt, also ein Einbrecher. Jedoch ein ganz Besonderer, denn er will nichts stehlen, wie man anfangs meinen könnte, sondern einfach nur einen Moment, ein paar Stunden, einen Tag [oder mehr fragt man sich als Leserin] privaten Glücks im Leben einer ganz normalen Familie miterleben. Teilhaben an deren kleinen, banalen Alltagsmomenten. Vielleicht weil es das für ihn, den Einsteiger, den Protagonisten der Generation „X“ nicht mehr gibt?
Die Wohnung, die ich mir ausgesucht hatte, lag im Erdgeschoss, im normalsten Wohnblock der Welt - der aber zugleich der schönste Wohnblock der Welt war, wenn man ein Auge dafür hatte. Es war still in dieser Straße, ein graublauer Schimmer hing über den viereckigen Vorgärten, nicht reich, aber auch nicht arm, solide eben - genau richtig. Die gelben Müllcontainer hatten in der Dämmerung einen graugrünen Ton angenommen, ordentlich in ihren Holzumzäunungen stehend, als müsste der Müll vor Dieben geschützt werden; tatsächlich waren sie mit Vorhängeschlössern behangen, ich hatte nachgesehen. Und eigentlich war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich diesen Wohnblock kannte, aus einem vergessenen Traum oder aus einer Vorausschau, wenn es das gibt: Der Block rückt näher und näher, und dann ist er deutlich vorhanden, exakt mit den drei Schneeballlampen vor den Eingängen, mit den drei Kieswegen und den roten Hausnummern Neun bis Elf.
Er füllt den Umriss aus, der schon vorhanden ist im Kopf.
Und genau wie vorgesehen gleichen sich auch alle Fenster und Metallbalkone, lenken den Blick erst dadurch auf die kleinen Unterschiede: auf zwei Windspiele, auf eine mit Wäscheklammern besetzte Leine, auf eine Strohpuppe mit Hut, die lächelnd in einem Blumentopf sitzt. In den Fenstern gegenüber brennt gelbes Licht, aber niemand sieht raus; es ist ein stummes, ungewöhnlich friedliches Viertel. Bastianstraße Neun bis Elf. Ich habe es gesehen.
Und hier noch ein Textbeispiel für die Normalität, wie es sie immer weniger gibt:
Ich drücke die Tür noch ein bisschen weiter auf und begreife dann, dass da Klaviermusik läuft, eine leise, anfassende Klaviermusik. Die Eltern sehen sich ein Konzert im Fernsehen an, ein Open-Air-Konzert mit einem singenden Pianisten, sie sitzen bei einem Glas Wein und genießen das spätabendliche Programm. Es ist eine Ballade, zu der genau diese Stimme gehört, eine zarte, die zwischendurch auch rau werden darf, die Stimme des stadionfüllenden Sängers.
Die ich mit einem Summen begleite.
Aber sie hören mich nicht, und ich denke, dass ich jetzt auch nicht einfach reinplatzen kann, das nicht, sie wirken grade so entspannt, es würde unnötig respektlos wirken - es ist besser erstmal zu gucken, ob es möglich ist, sich mit ihrem Jungen anzufreunden.
Das Juroren-Urteil
Spinnen bringt es denn von allen Juroren am besten auf den Punkt, als er sagt: „Ein klassisch vampiristischer Text. Jemand nimmt die Identität von etwas anderem an, in dem er in diesen anderen, in diese andere Identität hineinschlüpft, sie sich aneignet. Alle Vampire werden jedoch nach und nach zu einer Gefahr für diejenigen, die sie aussaugen.“ Daher sei dieser Text, der einer „Identitätserschleichung“. [er hat recht, denn als Leser, rechnet man ständig damit, dass „DER Einsteiger“ plötzlich aus seinem Versteck erst im Gebüsch vor dem Fenster, dann im Haus eingestiegen, unter dem Sofa hervor beobachtend, hinter der Tür stehend in ein anderes Zimmer hinein spickend, hervorspringt und ein Familienmitglied anfällt, und ihm oder ihr ans Blut will]
Winkels formuliert es anders, als „sehr schöne Geschichte, die einen im Unklaren lässt, ob es den Ausflug ins gutbürgerliche Heim gibt, da im Text ständig das Thrillerhafte lauert.“ Der Autor betreibe hier im Text „eine Apotheose der gut kleinbürgerlichen Familie und das grammatikalisch sehr präzise“.
Keller: Der Einsteiger sei ein klar konstruierter Ich-Erzähler, der jedoch nicht wirklich ein Gesicht bekäme. Anstelle des Vampirs sieht sie „einen, der sich in eine fremde Familie hinein adoptiert“.
Caduff wird aus dem Text nicht besonders schlau. Sie meint „ein schöner, schlichter Text, der sie nicht weiter beschäftigen wird“.
Strigl: Der Text sei wie ein „Christian Andersen Märchen“ und damit ein Spiel zwischen Realität und Tagtraum. Der Protagonist, der Einsteiger, träume sich hinein in eine Familie. Sich hinein zu stellen in fremde Träume, die vielleicht Wirklichkeit sind, das ist für sie „der brennende Knöchel“ dieses Textes, alles andere rundum zerfließe dagegen.
Feßmann: Der Text stelle die Verlockung des Familiären dar. Die Normalität als Lebensziel. Diese Normalität zu erreichen, sei etwas, was wieder erstrebenswert ist, was man anstreben kann, jedoch nicht mehr hin bekommt. Die Sehnsucht nach Spießigkeit, die eine junge Generation nicht mehr leben kann [im Gegensatz zu den Alt-68ern und den Babyboomern der 1960er Jahre, die das noch konnten]. Ferner stecke im Text noch „das Zeitporträt über die wahnsinnig überlasteten Frauen“, die selbst beim „Sich betrinken noch miteinander konkurrieren“.
1965 mal gelesen
Auch bei Andreas Stichmanns Text verschwimmen Realität und Phantasie, vermischen sich Wirklichkeit und Traum, Wahrheit und Fiktion im Bimbam der Worte. Insofern passt das Motto dieses Bachmann-Bewerbs auch sehr gut auf diesen Text oder umgekehrt.
Eigentlich handelt die Geschichte von einem, der bei anderen Menschen ins Haus einsteigt, also ein Einbrecher. Jedoch ein ganz Besonderer, denn er will nichts stehlen, wie man anfangs meinen könnte, sondern einfach nur einen Moment, ein paar Stunden, einen Tag [oder mehr fragt man sich als Leserin] privaten Glücks im Leben einer ganz normalen Familie miterleben. Teilhaben an deren kleinen, banalen Alltagsmomenten. Vielleicht weil es das für ihn, den Einsteiger, den Protagonisten der Generation „X“ nicht mehr gibt?
Die Wohnung, die ich mir ausgesucht hatte, lag im Erdgeschoss, im normalsten Wohnblock der Welt - der aber zugleich der schönste Wohnblock der Welt war, wenn man ein Auge dafür hatte. Es war still in dieser Straße, ein graublauer Schimmer hing über den viereckigen Vorgärten, nicht reich, aber auch nicht arm, solide eben - genau richtig. Die gelben Müllcontainer hatten in der Dämmerung einen graugrünen Ton angenommen, ordentlich in ihren Holzumzäunungen stehend, als müsste der Müll vor Dieben geschützt werden; tatsächlich waren sie mit Vorhängeschlössern behangen, ich hatte nachgesehen. Und eigentlich war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich diesen Wohnblock kannte, aus einem vergessenen Traum oder aus einer Vorausschau, wenn es das gibt: Der Block rückt näher und näher, und dann ist er deutlich vorhanden, exakt mit den drei Schneeballlampen vor den Eingängen, mit den drei Kieswegen und den roten Hausnummern Neun bis Elf.
Er füllt den Umriss aus, der schon vorhanden ist im Kopf.
Und genau wie vorgesehen gleichen sich auch alle Fenster und Metallbalkone, lenken den Blick erst dadurch auf die kleinen Unterschiede: auf zwei Windspiele, auf eine mit Wäscheklammern besetzte Leine, auf eine Strohpuppe mit Hut, die lächelnd in einem Blumentopf sitzt. In den Fenstern gegenüber brennt gelbes Licht, aber niemand sieht raus; es ist ein stummes, ungewöhnlich friedliches Viertel. Bastianstraße Neun bis Elf. Ich habe es gesehen.
Und hier noch ein Textbeispiel für die Normalität, wie es sie immer weniger gibt:
Ich drücke die Tür noch ein bisschen weiter auf und begreife dann, dass da Klaviermusik läuft, eine leise, anfassende Klaviermusik. Die Eltern sehen sich ein Konzert im Fernsehen an, ein Open-Air-Konzert mit einem singenden Pianisten, sie sitzen bei einem Glas Wein und genießen das spätabendliche Programm. Es ist eine Ballade, zu der genau diese Stimme gehört, eine zarte, die zwischendurch auch rau werden darf, die Stimme des stadionfüllenden Sängers.
Die ich mit einem Summen begleite.
Aber sie hören mich nicht, und ich denke, dass ich jetzt auch nicht einfach reinplatzen kann, das nicht, sie wirken grade so entspannt, es würde unnötig respektlos wirken - es ist besser erstmal zu gucken, ob es möglich ist, sich mit ihrem Jungen anzufreunden.
Das Juroren-Urteil
Spinnen bringt es denn von allen Juroren am besten auf den Punkt, als er sagt: „Ein klassisch vampiristischer Text. Jemand nimmt die Identität von etwas anderem an, in dem er in diesen anderen, in diese andere Identität hineinschlüpft, sie sich aneignet. Alle Vampire werden jedoch nach und nach zu einer Gefahr für diejenigen, die sie aussaugen.“ Daher sei dieser Text, der einer „Identitätserschleichung“. [er hat recht, denn als Leser, rechnet man ständig damit, dass „DER Einsteiger“ plötzlich aus seinem Versteck erst im Gebüsch vor dem Fenster, dann im Haus eingestiegen, unter dem Sofa hervor beobachtend, hinter der Tür stehend in ein anderes Zimmer hinein spickend, hervorspringt und ein Familienmitglied anfällt, und ihm oder ihr ans Blut will]
Winkels formuliert es anders, als „sehr schöne Geschichte, die einen im Unklaren lässt, ob es den Ausflug ins gutbürgerliche Heim gibt, da im Text ständig das Thrillerhafte lauert.“ Der Autor betreibe hier im Text „eine Apotheose der gut kleinbürgerlichen Familie und das grammatikalisch sehr präzise“.
Keller: Der Einsteiger sei ein klar konstruierter Ich-Erzähler, der jedoch nicht wirklich ein Gesicht bekäme. Anstelle des Vampirs sieht sie „einen, der sich in eine fremde Familie hinein adoptiert“.
Caduff wird aus dem Text nicht besonders schlau. Sie meint „ein schöner, schlichter Text, der sie nicht weiter beschäftigen wird“.
Strigl: Der Text sei wie ein „Christian Andersen Märchen“ und damit ein Spiel zwischen Realität und Tagtraum. Der Protagonist, der Einsteiger, träume sich hinein in eine Familie. Sich hinein zu stellen in fremde Träume, die vielleicht Wirklichkeit sind, das ist für sie „der brennende Knöchel“ dieses Textes, alles andere rundum zerfließe dagegen.
Feßmann: Der Text stelle die Verlockung des Familiären dar. Die Normalität als Lebensziel. Diese Normalität zu erreichen, sei etwas, was wieder erstrebenswert ist, was man anstreben kann, jedoch nicht mehr hin bekommt. Die Sehnsucht nach Spießigkeit, die eine junge Generation nicht mehr leben kann [im Gegensatz zu den Alt-68ern und den Babyboomern der 1960er Jahre, die das noch konnten]. Ferner stecke im Text noch „das Zeitporträt über die wahnsinnig überlasteten Frauen“, die selbst beim „Sich betrinken noch miteinander konkurrieren“.
Teresa HzW - 5. Jul, 22:18 - Rubrik [W]ortgeklingel