Ein Abend mit.. Denis Scheck!

Liebe Leser[innen],

heute schenke ich Ihnen ein „Blaues Band“** ;-)
- nach einem wunderbaren Abend mit Denis Scheck. Gestern.
Auf dem Grünen Hügel der deutschsprachigen Hochkul [litera] tur! Ich bin beinahe sprachlos vor Glück! Es war Literatur vom Feinsten, was da geboten! Wir saßen im Berthold-Leibinger-Saal – der Vortragssaal im LiMo, angenehm temperiert auf 18 Grad Celsius, wie alle Räume dort.

Wir – eine Schar von rund fünfzig, sechzig Zuhörer[innen], die dem ersten lauen Sommerabend auf den heimischen Terrassen und Balkonen oder in Straßencafés und Biergärten widerstanden und dem literarischen Ruf der Zettel-Wirtschaft folgten: Ihren Zettelkästen.Maschinen der Phantasie.
Ich nahm in der ersten Reihe Platz und saß demzufolge Denis Scheck höchstens auf zwei Armlängen entfernt gegenüber – später in der Diskussion. Zuvor nahm er uns mit auf eine Reise: Einen einstündigen Vortrags-Flug. Über den Atlantik in die USA und zurück. Dank intergalaktischem Wharp-Antrieb, mit dem er sich selbst und uns, sein Publikum, beschleunigte. Für einen Literatur-Macher wie ihn -kein Problem.

"Ladies and Gentlemen: Fasten your seatbelt und rechnen Sie bitte auch mit Luftlöchern!“ stand auf seinem ersten Zettel. Dann legte er – noch bevor der Service mit den Getränken kam - los: Wie Arno Schmidt „mit Zetteln denken gelernt“ habe... für sein Debut, die „Abenteuer der Silvesternacht“.
Zu sehen – vor dem Boarding - eine Etage tiefer in den Ausstellungsräumen des LiMo – leider nicht die Zettel für diese Nacht, dafür einen anderen Zettelkasten von Arno Schmidt zu „Seenlandschaft mit Pocahontas“: 18 durchnummerierte Unterkapitel und Zettel, die jeweils aus einem kürzeren Abschnitt und einem längeren Text bestehen. Einmal musste sogar ein Foto herhalten, vermutlich war kein Zettel zur Hand, dann hatte Schmidt eben das nächstliegende, ein verblichenes schwarz-weiß-Foto in einen solchen umgewandelt, um Wörter und Sätze festzuhalten.

Später, als der "Blaue Panther"-Preisträger vom brief-light-Check, seinem eigenen zweiten Zettel, erzählte und "Das Lesikon der visuellen Kommunikation“ von Juli Gudehus – ins Publikum zum Durchblättern reichte, plauderte er aus, dass bei ihm auch schon mal eine leere Suppentüte als Notizzettel hergehalten hat. Die Ansichtssache von Juli Gudehus wiederum enthielt einige Originale ihrer Zettel: etwa eine Ansichtskarte oder einen Geschäftsbrief, bei dem es um eine Terminvereinbarung geht. Eingelegt – im hinteren Drittel des Buches.

„Zettel schneiden,
Zettel schneiden,
Zettel schneiden,
Zettel schneiden“

– skandiert derweil Denis Scheck den Rap aus Schmidt`s "Silvesternacht“ und damit das Lebens-Motto und den Weg des "Zettel Traum“–Verfassers in die Literatur-Produktion.

Bevor wir in ein Luftloch fallen, in dem uns Elmar Tophoven, der große deutsche Übersetzer von Samuel Beckett mit seinem wunderbaren Bonmot wieder auffängt: "Literatur-Übersetzung beginnt da, wo das Wörterbuch aufhört“.
Tophoven wollte die Übersetzung von Literatur, ihren work-in-progress "gläsern“, im Sinne von sichtbar, machen. Er legte sich dafür selbst die minutiöse Protokollierung seines Übersetzungsprozesses auf. Das heißt, er beschrieb ihn parallel zum Übersetzen in einem Protokoll.
Das ging anscheinend so weit, dass er später außen an seinem Haus sogar eine Laufschrift anbrachte. Interessierte Mitmenschen hätten so seine sekündlichen, minütlichen Arbeitsschritte mit verfolgen können. Beispielsweise, wenn er morgens um sieben in einer Beckett-Übersetzung den Satz x zu y umbaute. Oder ein Wort korrigierte.

Das sorgt im Publikum für Heiterkeit und führt zur Lockerung der Sicherheitsgurte. Kein Wunder, wenn man so schnell die literarische Flughöhe erreicht. Nur die Schuhe, die behalten wir lieber an.

Auf den folgenden Zetteln drei bis zehn, die der Fernsehmoderator deutscher Buchkultur nun aus seinem Zettelkasten zieht, geht es um die Liebe: Die transatlantische Liebe! Die Liebe zwischen der europäischen, vor allem der deutschsprachigen Literatur und der amerikanischen. Zwischen jungen Frauen und alten... *ähem, `tschuldigung, liebe Leser*... ich wollte natürlich schreiben "älteren“ Männern. Und so bezeichnete sie Scheck denn auch, diese >amour fou< und er berichtet von dem sprachlichen [oder nannte er es doch grammatikalisches?] Kuriosum, dass der deutsche Komparativ in Verbindung mit dem Wörtchen "alt“ aus einem alten Mann immer einen jüngeren macht.
"Der alte Mann und das Meer“ – denke ich mir in Anlehnung an Ernest Hemingway.
"Ähem… der ältere Mann und das Mädchen“, korrigiere ich mich in Gedanken während ich aus dem Flugzeugfenster in schwindelerregenden literarischen Höhen blicke. Als ich noch über dieses Wortspiel und seine tiefere Bedeutung nachdenke, erzählt Denis Scheck von seinem Zettel Nummer acht, den er selbst mit "Zwischen den Stühlen“ betitelte, denn er meint:
„Bei diesen verrückten transatlantischen Liebesbeziehungen geht immer etwas schief!“
Ob das an der kulturellen Überlegenheit des europäischen Literaten wie einem Martin Walser und seinem Schriftsteller-Protagonisten Helmut Hahn liegt, den er auf Lesereise in die USA schickt? Oder an der weiblichen Verführungskunst einer jungen, dunkelhäutigen androgynen Knabenfrau, namens Jennifer, die Walter Kempowski`s Schriftsteller-Protagonisten, Alexander Sowtschick, bei dessen Amerika-Aufenthalt begegnet.

"Immer sind es schöne amerikanische Frauen, die den Untergang der Europäer heraufbeschwören“, resumiert Denis Scheck und zitiert den wunderbaren Satz, den Martin Walser seinem Helmut Hahn in den Mund legte: "Liebe ist es nur, wenn Du keine Wahl hast!“

Auch "Montauk“ von Max Frisch darf in der Zettel-Wirtschaft des Fernsehmoderators nicht fehlen. Auch dort imaginiert der Protagonist dreimal den Tod der viel jüngeren, amerikanischen Wochenend-Geliebten "Lynn“ [meine Stammleser:innen erinnern sich gewiss…. auch wenn meine öffentliche [Vor]Lesung zwei Jahre zurückliegt].

Bevor wir das Einreiseformular ausfüllen, wirft Scheck noch einen kurzen Blick in den literarischen Pass.
Stimmt da alles?
Immerhin ist es Walter Kempowski, dessen oben erwähnter Protagonist in "Letzte Grüße", aus berufenem Mund an diesem Abend spricht: „Interessiert sich niemand für die Dinge im eigenen Land?“ – mit diesem Zitat auf seinem Zettel Nummer elf – setzt Scheck zum Sturzflug auf das nahende Vortragsende an.

China – klärt er uns auf – zeige derzeit das größte Interesse an deutscher Literatur. Nach einer Untersuchung des Deutschen Börsenvereins wurden im vergangenen Jahr 7.343* Bücher aus dem englischsprachigen Raum ins Deutsche übersetzt. Demgegenüber stehen 529* Titel, die den umgekehrten Übersetzungsweg, vom deutschen ins englischsprachige, gingen. An diesen englischsprachigen Übersetzungen waren neben britischen auch irische, südafrikanische, neuseeländische und australische Verlage beteiligt.

Eine vernichtende Bilanz! – finde ich und bin mit meiner Denke nicht allein, da um mich herum die einen stumm vor Entsetzen sind, während andere mißgünstig zu brabbeln beginnen.
Denis Scheck nennt das eine "transatlantische Einbahnstraße“. Seit 1993 würden die deutschen Übersetzungen ins amerikanische kontinuierlich zurückgehen. Die Deutschen übersetzten zwanzig Mal mehr englisch-amerikanische Literatur ins Deutsche als umgekehrt!
China übersetze heute bereits vier Mal so viel deutsche Literatur ins Chinesische als alle angloamerikanischen Verlage zusammen ins Deutsche. Als einen Grund dafür macht der Fernsehmann die starke Orientierung der Amerikaner in den Pazifischen Raum und das [zumindest] literarische Abrücken von "Old Europe" aus.

Wer zählt denn überhaupt zu den transatlantischen Größen deutscher Literatur? – frage ich mich und der Herr der Bücher spricht es aus:
Paul Celan – Günther Grass – Handke.
Dann: Thomas Bernhard – Elias Canetti – Max Frisch – Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann.
Schließlich: Christa Wolf – Arno Schmidt – Herta Müller und Hein…

Und aus der zeitgenössischen Literatur?
Daniel Kehlmann, Thomas Hettche, Charlotte Roche [bei ihrem Namen geht ein Raunen durchs Publikum]…

Wer unter den zeitgenössischen Literaten verbucht die größten kommerziellen Erfolge in den USA?
Bernhard Schlink [Der Vorleser] und Patrick Süskind [Das Parfum] - Da hätte ich später gern in der Diskussion nachgefragt, ob das damit zu tun hat, dass sie erfolgreich verfilmte Bücher hatten? Doch mir entfiel in der Faszination des Zuhörens die Frage…

Autoren mit Sonderstellung [bei der amerikanischen Literaturkritik] –neben Thomas Mann und Franz Kafka- der W.G. Sebald. Bei diesem Literaten-Stichwort kommt mir dessen besondere Form des Sammelns und Archivierens in den Sinn: Die aktuelle Ausstellung im LiMo nimmt ihn damit ebenfalls in den Blick.
Außerdem denke ich an den Bayerischen Wald, denn W.G. Sebald, liebe Leser[innen], hatte waldlerische Wurzeln! Sein Vater stammt aus der Waldheimat und daher wundert[e] es mich nicht, zu hören, dass dessen Protagonisten immer auf der Reise sind. Selbst wer dies nicht weiß, konnte es dem beeindruckenden Gesichter-Index, das vor dem Boarding, ein Stockwerk tiefer, zu besichtigen war, entnehmen.

Alphabetisch sortierte der Schriftsteller W.G. Sebald hunderte von Gesichtern, unzählige literarische Figuren und Motive, Orte, Länder und Landschaften nach einem werkspezifischen Index vom Buchstaben A wie Ausgewanderte, Austerlitz über IJ wie Istanbul. Ipswich, Ireland, Japan, Jerusalem bis hin zu W wie William, Wertach/Unterjoch.
In einer auffächerbaren Registermappe im DIN-A4-Format [sie existiert leider nicht mehr] hatte er die Fotos aufbewahrt. Er knipste sie mit der Kamera, entnahm sie aus Familienalben oder fand sie auf Flohmärkten – "ein Konvolut der verwirklichten, verworfenen und angedachten Erzählanlässe, eine Sammlung von literarischen Haupt- und Nebenspielplätzen, von Auswahl- und Ausschuss-Material“ [wie es im Ausstellungskatalog heißt].

Während ich im Nachgang nun im Ausstellungskatalog blättere, klingt nochmals Denis Scheck an mein Ohr: Sebald schreibe im Frack – wegen seiner Themen Tod, Vertreibung, Exil. Gestern dachte ich bei diesen Stichworten an meine Familien-Geschichte. Jedoch nicht lange, denn der Herr der Bücher schwenkte das lange, grüne [amerikanische] Einreiseformular in der Hand…. bevor es dann wieder hieß:
"Fasten seat belt, ladies and gentlemen“
...und wir im Sinkflug auf den literarischen Airport LiMo Marbach einschwenkten und dabei noch eine Anekdote aus Scheck`s letztem Zettel zur amerikanischen Comicliteratur hörten: … dass es die Dagobert-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs war, die auch meine frühere Jugendsprache prägte - mit Sprüchen wie: „Ohne Knete keine Fete“!

Ein Schmunzeln huschte mir da übers Gesicht, weil so ein Spruch zu meiner Jugendzeit bisweilen eine Backpfeife setzte oder war es doch das Aufsetzen auf der Marbacher Landebahn, das ich da verspürte?

Indes… keine[r] der Fluggäste hatte es hinterher eilig, das "Taxi to the gate“ zu bekommen! 

Der Vortrag von Denis Scheck – ein Lehrstück. Eine Meisterstunde! Eine Tour d`Horizon. Über Literatur und ihre Produktion[s]-Bedingungen und –Voraussetzungen: Die Zettel.
Der Meister selbst: Wie man ihn aus dem Fernsehen, seinem Büchermagazin „druckfrisch“, kennt: Witzig. Wortgewaltig. Weltgewandt.
2193 mal gelesen
Teresa HzW - 6. Jun, 20:05

** und *-Fußnoten

* hoffentlich habe ich beim Wharp-Antriebigen Vortrag die Zahlen richtig notiert :-o

** gewidmet einem Mann, der an dem Abend nicht dabei sein konnte ;-)

Sani (Gast) - 7. Jun, 23:53

Wüßte gern nur eins:
War das DER ALTE? :-=
Teresa HzW - 10. Jun, 19:28

Nein, liebe Sani, der.... "ältere" :-))
Gast (Gast) - 8. Jun, 18:33

gelesen und bedauert den abend versäumt zu haben

Teresa HzW - 10. Jun, 19:32

Vielleicht ein kleiner Trost, werter Gast:
Ab Ende dieser Woche kommt eine weitere verzettelte Sonderausstellung hinzu: über Friedrich Kittler… und wieder ein Vortrag…
und die "Maschinen der Phantasie", die Zettelkästen, sind bis weit in den September noch in Augenschein zu nehmen :-)

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