Palliativer Abschied
„Jetzt wäre es gut, wenn ich einen Physiotherapeuten als Freund hätte“, sagt B. als Alter Egon ihm den linken Fuß vorsichtig in der Schaumstoff-Schiene anhebt, abwinkelt und mit seiner rechten Hand unter B.`s Kniekehle abstützt, während er seine linke Hand leicht gegen dessen Fußsohle drückt.
B. liegt mit schmerzverzerrten Gesichtszügen in diesem Krankenhausbett. Nur langsam entspannt sich seine Mimik: „Danke! Jetzt ist der Schmerz wieder vorbei.“
Eine ganze Weile hält Alter Egon unserem Freund B. das Bein, das seit einem Lendenwirbeleinbruch vor einer Woche gelähmt ist. B. kann es aus eigener Kraft nicht mehr bewegen, spürt aber die Schmerzen, die in zitternden Wellen seinen Körper, vor allem die Gliedmaßen durchrollen. Ich sitze neben ihm, halte seine linke Hand, die um die Finger herum eiskalt, von der Krankheit gezeichnet, sehr dünn geworden ist. Stumm streichle ich sanft eine Weile seinen Handrücken bis ich irgendwann seine kühle Hand in meinen beiden warmen Händen ruhen lasse. Keiner sagt etwas. Und das braucht`s auch nicht. Wir sind einfach da.
Für B.
Seit 10 Tagen liegt er reglos in diesem Bett. Er kann nicht mehr laufen. Da er sich nicht mehr bewegen darf. Die Ärzte fürchten, dass wenn er sich aufrichtete und hinzusetzen versuchte, die Wirbelsäule vollends bräche und B. querschnittsgelähmt wäre. Zu allem anderen. Hinzukommend.
Es ist schwer zu sagen, welche Organe und Bereiche des Körpers überhaupt noch frei sind vom Nierenkrebs, der sich unbemerkt in seinen Körper und sein Leben einschlich. Ein Leben, das noch so jung an Jahren ist.
„Ich habe noch so viel vorgehabt“, sagt er zu uns, als wir an seinem Bett sitzen und „ ich würde manches so gern noch einmal machen….“
„Was würdest Du denn gern noch einmal machen“, frage ich leise, beinahe zögernd in die Stille nach einer Weile zurück.
B. `s Augen glänzen und werden noch größer, als sie mir ohnehin seit der Rückkehr von der heutigen Hirn-Bestrahlung erscheinen. Alter Egon thematisiert sie später, als wir gegangen und noch lange in einem nahen Café sitzen, um den Besuch, der zugleich der Abschied von unserem langjährigen Freund B. gewesen sein wird, zu fassen und zu verarbeiten suchen. Es sind die Flecken auf seinen tiefschwarzen Pupillen, die mir wie kleine Pixel erscheinen und die auch mich irritieren. Vor allem als er mich so unvermittelt ansieht und ein Lächeln über sein Gesicht huscht und er sagt:
„Venedig! – Noch einmal Venedig...“
Er macht eine lange Pause und flüstert ganz leise: „Sehen und dann… sterben!“
Auch Shanghai – nennt er – die asiatische Stadt, die immer sein Traumort war, an dem er oft gewesen und einige Zeit auch leben durfte, zumindest für eine kurze Arbeitszeit. Erst Anfang dieses Jahres war er dort.
„Da habe ich mir nochmal den Bauch vollgeschlagen, mit diesen kleinen Krebsle, die ich so gern esse und die es nur dort gibt.“
Alles... wenige Wochen zuvor….
Bevor die Katastrophe, diese schrecklich aggressive Krebsform in sein Leben einbrach und ihm binnen Tagen seinen Körper raubte! Seine Halswirbelsäule und der Lendenbereich waren da bereits von Metastasen befallen. In Windeseile griffen sie auf andere, innere Organe, über. Dennoch… nahm er den Überlebenskampf auf… obwohl die Ärzte schon bei der Erstdiagnose das „weit fortgeschrittene Stadium“ diagnostizierten. Und sehr wenig Hoffnung bestand. Zwei oder drei Monate lautete damals deren Prognose. Diese Woche hat er das fünfte Überlebens-Monat vollendet.
„Doch zu welchem Preis!?“ – meint bitter seine Frau, unsere gute Freundin C., als wir am Krankenbett sitzen. Sie, die seitdem übernatürliche Kräfte aufbringt, um ihm in den letzten Wochen beizustehen. Die „durch die Hölle geht“, wie sie uns immer wieder, bei jeder Zusammenkunft in den letzten Wochen berichtet. Es sei für sie wie ein „nicht enden wollender Albtraum", aus dem man aufwachen möchte, es aber nicht täte.
„Wir wollten zusammen alt werden und jetzt werde ich Witwe“, meinte sie vor vier Tagen am Telefon zu mir, als sie uns die Schreckensnachricht überbrachte, dass er im Sterben läge und sich von uns verabschieden wolle.
Sie erzählte von den beiden Wochen davor, jenen der Hoffnung.
Eine Hoffnung, die sich vor zehn, zwölf Tagen, auftat… als er in der REHA… vom gemeinsamen Aufbruch… von seinem unbändigen Lebenswillen, der ihn „über seine menschlichen Kräfte hinauswachsend“ in der REHA für das Leben kämpfen ließ… in die er nach der zweiten Chemo- und Bestrahlungswelle überstellt… bis er dann jäh zusammenbrach, als sie schon wieder zuhause… um das Haus auf das gemeinsame Pflege-Über-Leben mit ihm vorzubereiten…
Doch da… hatte er – noch am Kurort - plötzlich diese Lähmungserscheinungen im linken Bein…. Er konnte nicht mehr auftreten und zugleich übergab er sich. Pausenlos!
Daher transportierte man ihn sofort in die Klinik zurück… mit dem schlimmsten Verdacht… zuerst wegen des Beins… mehr aber wegen des ständigen Erbrechens…
„Der Krebs, die Metastasen haben die Hirn-Blut-Schranke durchbrochen. Es gibt keine Heilung mehr. Keine Rettung. Keine Hoffnung. Die Oberärztin habe aufgehört die Metastasen in seinem Gehirn zu zählen. Es sei einfacher zu sagen, wo noch keine Metastasen wären… daraufhin habe B. sich entschieden, von allen Menschen, die ihm wichtig sind, Abschied zu nehmen.“ - erzählt die Freundin, als wir auf dem Balkon des Krankenhauses stehen, weil B. sich drinnen erbricht.
Sie stockt in ihrem Bericht und geht zurück ins Zimmer. Es hört sich schlimm an, wie er drinnen erbricht. Als ob sich das Innerste aus seinem Körper nach draußen wendete. Stumm warten wir auf dem Balkon, der alle Zimmer dieser Palliativstation umrundet.
Alter Egon und ich sagen beide nichts. Hören nur aus dem Inneren die wiederkehrenden Brechgeräusche.
Schweigend blicken wir über die Wipfel der Bäume, die sich zwischen den Gebäudeteilen dieses Krankenhauskomlexes erstrecken, hinweg… unser Blick verliert sich in der Ferne. Ich denke nichts. Irgendwie ist mein Hirn völlig leer.
Plötzlich gellende Schreie.
Von B.: „… ich kotze… ich kotze alles voll!“
Betroffen stürze ich ins Zimmer und sehe B. in Panik aufgelöst mit dem Brechbeutel in der Hand. Der ist beinahe zu einem Drittel mit gelbgrüner Flüssigkeit gefüllt. In einem breiten Schwall ergießt sie sich aus seinem Mund in den Vollbart. Geistesgegenwärtig greife ich die Serviette, die auf dem Tischchen neben ihm liegt, um den Schwall dieser übel riechenden Flüssigkeit, die aus seinem Mund bricht, aufzufangen und den Bart von dem giftgrünen, klebrigen Gemisch zu befreien. Mittlerweile kommt unsere Freundin C. ins Zimmer zurück. Gleich werde ein Pfleger kommen, teilt sie mit.
B. schimpft vor sich hin, dass es immer viel zu lange dauere bis die Schwestern auf sein Notsignal hörten und endlich einer käme, doch er hätte ja nun "Schwester Teresa".
C. hört stumm zu und öffnet eine Schublade an dem kleinen Tischchen am Fußende des Bettes, zieht sich einen Einmalhandschuh über, reißt eine kleine, graue Tüte von einer Rolle und nimmt B. den Brechbeutel und mir die versiffte Serviette ab, um sie darin im nebenstehenden Mülleimer zu entsorgen. Dann steht sie auf und geht zum Waschbecken, wäscht sich die Hände, desinfiziert sie mit einer Paste, die auch ich anschließend benutze, und meint zu B. gewandt: „Sei mir nicht böse, ich möchte gerne heimgehen. Ich kann nicht mehr. Heute Nacht habe ich kaum geschlafen.“
B. nickt ihr verständnisvoll zu und sagt: „Ja, geh nur.“
Er wendet sich uns zu und meint: „Und wir. Wir machen noch ein Weilchen. Ja? Wie spät ist es? Halbsieben? Ja, dann machen wir noch bis sieben. Ja?“
Alter Egon und ich nicken. Beide gleichzeitig und stumm.
B. drückt den Knopf neben seinem Bett, mit dem er die Kopfstütze elektrisch heben und senken kann. Er darf ja nur noch reglos liegen. Seine einzige körperliche Beweglichkeit besteht im Hochfahren und Absenken der Kopfstütze seines Bettes. Er senkt sie wieder in die Liegeebene hinab.
C. gibt ihrem Mann die Hand, drückt sie leicht und wendet sich uns zu. Alter Egon umarmt sie lange.
Ich gehe mit ihr hinaus.
Vor dem Zimmer sagt sie zu mir, die Pfleger hätten ihr am Tag davor angeboten, ein weiteres Bett zu dem ihres Mannes hinzu zu stellen, damit sie nun auch nachts bei ihm sein könne.
„Ich kann das nicht!“, sagt sie in entschuldigendem Ton zu mir, „ich brauche wenigstens die Distanz der Nachtruhe, sonst stehe ich das nicht mehr durch.“
Ich sage nichts, ich umarme sie nur. Lange. Halte sie sehr lange in meinen Armen und spüre die Kraftlosigkeit die von ihrem Körper ausgeht, einem weichen Frauenkörper, der sich in meinen Armen wie eine überlebensgroße, weiche Stoffpuppe anfühlt. Ich habe das Gefühl, dass wenn ich sie nun losließe, sie mir zusammenfällt, eben umkippt wie eine solche Stoffpuppe, die keinen Halt mehr hat. Und vielleicht würde sie sich selbst auch gerne fallen lassen, kann es aber nicht. Da sie sich ihre Kraft von einem Tag immer bis zum nächsten aufsparen muss.
So stehen wir… gefühlte fünf, zehn oder auch fünfzehn Minuten da. Es ist mucksmäuschenstill auf diesem Flur. Kein Laut dringt aus einer der vielen Türen rechts und links heraus. Ich halte sie einfach nur in meinen Armen und streichle ihr über die Wange.
„Schön, dass Ihr noch bleibt…“ – meint sie schließlich, löst sich aus meinen Armen. Ich gebe ihr noch ein Küsschen auf die Wange. Ein Lächeln huscht da über ihr Gesicht. Sie drückt meine Hand und wendet sich dem Aufzug zu, der schon eine ganze Weile geöffnet steht.
Auch mir geht es plötzlich selbst so, dass ich ein wenig Abstand brauche… ich kann noch nicht zurück in dieses Krankenzimmer… und schlendere den – wie mir scheint – unendlich langen Gang der Palliativstation entlang.
Totenstill ist es hier.
Es ist so ganz anders als auf anderen Stationen eines Krankenhauses. Auch anders als auf einer Intensivstation. An einigen Türen hängen bunte Papierblumen, wie man sie manchmal in Kindergärten aus leuchtend buntem Krepppapier bastelt. Auch einige bunt bemalte Bilder, meist mit Herzmotiven zieren einige Türen. An zwei Türen, an denen sogar um den Türstock herum unzählige bunte Kreppblumen drapiert sind, hängen mindestens DinA-4-große, weiße Zettel, auf denen steht:
„Nicht ohne Stationspersonal betreten!“
Ob im Zimmer dahinter ein verstorbener Mensch liegt? – frage ich mich.
Ich war noch nie auf einer Palliativstation.
Ich habe noch nie einen Menschen, der mir nahesteht, im Sterben begleitet und bewusst Abschied genommen!
Dieses bewusste Abschied nehmen von einer lieben Person, die einen großen Teil ihres Lebens mit meinem verbunden hat, habe ich so bewusst noch nie erlebt.
Es ist das erste Mal.
Es ist schrecklich!
Es ist so nahe gehend. Es ist nicht fassbar.
Und es ist furchtbar, den anderen so leiden zu sehen. Trotz des Morphiums, das er bereits erhält.
Trotz aller Schmerzlinderungen, die die heutige Medizin, ihm ermöglicht und vor allem trotz der hingebungsvollen und fürsorglichen Pflege, die jene Menschen, die auf solchen Palliativstationen ihren Dienst tun, dem anderen angedeihen lassen.
Es ist ein Spagat zwischen dem medizinisch Notwendigem und dem Erhalt von Menschenwürde, den alle hier vollbringen. Um einem anderen Menschen auf seinem letzten Weg noch ein letztes Quäntchen an Lebensqualität zu ermöglichen und einen Rest an Menschenwürde zu wahren.
Als ich zu B. ins Zimmer zurücktrete,
fachsimpelt er gerade mit Alter Egon über Computer.
Ich hole mir einen Stuhl und setze mich daneben, damit B. nur noch in eine Richtung zu blicken und nicht mehr den Kopf hin- und her drehen braucht, was er immerhin noch kann. Auch den Mund wischt er sich zwischendurch mit einer feuchten Papierserviette ab, denn während ich mit C. vor der Tür stand, hat er erneut erbrochen… Jetzt nimmt er eine Schnabeltasse und trinkt und ist beinahe wieder ganz der alte, wie er spricht…
Ich verstehe nur Bahnhof, entnehme dem Gespräch jedoch, dass es um wichtige Dokumente geht, die er in pdf`s auf seinem Rechner gesichert hat… es geht auch um wichtige Gas- und Telefonie-Verträge – „für Handy und Fetnetz“ – der eine würde im Juli fällig, der andere erst im November… die Passwörter… habe er alle in ein kleines Büchlein geschrieben, das er seiner Frau, unserer Freundin C., schon geschrieben… Das Hauptpasswort habe „75 Stellen“ – aus einem Generator kreiert…
Eine ganze Weile sitze ich still daneben, höre nur zu… Es ist das Vermächtnis, sein letzter Wille, den er uns kundtut, die Bitte, C. hinterher bei all den Dingen „rund ums Haus“ zu unterstützen, damit „sei sie immer schon überfordert gewesen“, meint er… ich lächle.
B. lächelt zurück und ich höre mich sagen: „Wir werden C. bei allem unterstützen.“ Alter Egon nickt.
Mittlerweile ist aus der halben Stunde fast eine Stunde geworden, seit C. gegangen…
Es ist kurz vor halb-acht.
Ich spüre, dass der Abschied naht.
Ich nehme wieder B.`s Hand und streichle sie ganz sanft. Alter Egon stellt die Blumen, die wir mitgebracht, die B. sich gewünscht, auf ein anderes Tischchen in B.`s Sichtweite.
B. schließt – wie schon oft in der letzten Stunde - die Augen und spricht mit geschlossenen Augen und sehr leiser Stimme zu uns. Ich rücke noch näher heran, weil sonst seine Stimme kaum zu hören ist. Seine linke Hand ruht in meiner, während er mit seiner rechten ein total verwaschenes, flauschiges Stofftier - vermutlich aus Kindheitstagen – an seine Brust drückt. Mag sein, um den Körper, der unter einem ständigen Zittern nun leicht vibriert, zu stützen.
„Frisch frittierte Calamari – die würde ich gern nochmal essen“, sagt er dann zu mir. „Den Geschmack und den Geruch von frisch frittierten Calamari, den habe ich gerade ganz intensiv in der Nase. Das wär`s!“
Dann schlägt er die Augen auf, legt das Stofftier zur Seite, zieht seine linke Hand aus der meinen, drückt seinen elektrischen Knopf und fährt sein Bett wieder in die Diagonale.
„Und Ihr, Ihr macht endlich Eure Küche!“, sagt er dann. „Das hattet Ihr doch schon 2006 vor. Jetzt wird`s aber mal Zeit. Nicht dass ich dann da oben bin und sehe, dass es wieder nix wird.“
Spricht`s und hebt mahnend den einen Zeigefinger. Lacht und meint: „Ich habe C. meine liebsten Rezepte in das Büchlein geschrieben.“
„Auch Dein geniales Pizzarezept?“ fragt Alter Egon.
„Auch das…“, lächelt B., „aber das kriegt ihr erst, wenn Eure Küche fertig ist.“
Und während er noch lacht, bricht er plötzlich bitterlich in Tränen aus… und es dauert nicht lang und wir heulen zu Dritt, während Alter Egon ihm den Arm streichelt und sagt: „Aso dann… mach`s gut… und wir sehen uns… ja irgendwann wieder…“
Und da lacht B. plötzlich wieder und ruft: „Aber das dauert noch lang… das sag ich Euch.“
Und es entsteht ein Augenblick der Stille. Und dann schaut er uns an und sagt zu uns beiden gewandt ganz ernst: „Noch 43 Jahre!“
Wir heulen wieder und drücken seine Hände, denn was anderes dürfen wir ja nicht mehr drücken.
Ich streichle noch mal sein Gesicht und trockne mit einem Tüchlein, das neben seinem Kissen liegt, seine Tränen vom Gesicht… und dann stehen wir auf… und sagen nur noch: „Also dann mach`s gut…“
Und er: „Und Ihr auch… und vergesst die Küche nicht… ich sehe alles… von da oben…“
Und da drehen wir uns nochmal um und winken…
...und sind draußen aus der Tür und fallen uns in die Arme und heulen nochmal eine Runde. Weil es so fürchterlich ist und so schrecklich.
Und Alter Egon spricht: „Er ist so tapfer. So tapfer!“
Wir gehen noch lange nicht nachhause, können es nicht, laufen zu Fuß mehrere Kilometer von diesem Ende der Stadt bis zu unserem Auto am Rand der City… bleiben noch zweimal in Kneipen hängen… und reden…. Lassen diese Freundschaft Revue passieren… reden über das, was uns wichtig erscheint… fühlen uns irgendwie… leer… aber auch friedvoll… und sind oft minutenlang still. Sehr traurig. Ein jeder hängt seinen Gedanken nach. Seltsamerweise fühlen wir uns jedoch nicht mitgenommen. Es ist beinahe so, als ob uns irgendetwas Kraft gäbe.
Nachts…
...finde ich lange keinen Schlaf…
irgendwann… erwache ich wieder…
Draußen beginnt ein Vogel leise zwitschernd den anbrechenden Morgen zu begrüßen…
Da fange ich urplötzlich an, still für mich, in Gedanken, zu beten und für ihn zu erbitten: „Lieber Gott… lass` B. nicht mehr allzu lange leiden… erlöse ihn!“
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B. liegt mit schmerzverzerrten Gesichtszügen in diesem Krankenhausbett. Nur langsam entspannt sich seine Mimik: „Danke! Jetzt ist der Schmerz wieder vorbei.“
Eine ganze Weile hält Alter Egon unserem Freund B. das Bein, das seit einem Lendenwirbeleinbruch vor einer Woche gelähmt ist. B. kann es aus eigener Kraft nicht mehr bewegen, spürt aber die Schmerzen, die in zitternden Wellen seinen Körper, vor allem die Gliedmaßen durchrollen. Ich sitze neben ihm, halte seine linke Hand, die um die Finger herum eiskalt, von der Krankheit gezeichnet, sehr dünn geworden ist. Stumm streichle ich sanft eine Weile seinen Handrücken bis ich irgendwann seine kühle Hand in meinen beiden warmen Händen ruhen lasse. Keiner sagt etwas. Und das braucht`s auch nicht. Wir sind einfach da.
Für B.
Seit 10 Tagen liegt er reglos in diesem Bett. Er kann nicht mehr laufen. Da er sich nicht mehr bewegen darf. Die Ärzte fürchten, dass wenn er sich aufrichtete und hinzusetzen versuchte, die Wirbelsäule vollends bräche und B. querschnittsgelähmt wäre. Zu allem anderen. Hinzukommend.
Es ist schwer zu sagen, welche Organe und Bereiche des Körpers überhaupt noch frei sind vom Nierenkrebs, der sich unbemerkt in seinen Körper und sein Leben einschlich. Ein Leben, das noch so jung an Jahren ist.
„Ich habe noch so viel vorgehabt“, sagt er zu uns, als wir an seinem Bett sitzen und „ ich würde manches so gern noch einmal machen….“
„Was würdest Du denn gern noch einmal machen“, frage ich leise, beinahe zögernd in die Stille nach einer Weile zurück.
B. `s Augen glänzen und werden noch größer, als sie mir ohnehin seit der Rückkehr von der heutigen Hirn-Bestrahlung erscheinen. Alter Egon thematisiert sie später, als wir gegangen und noch lange in einem nahen Café sitzen, um den Besuch, der zugleich der Abschied von unserem langjährigen Freund B. gewesen sein wird, zu fassen und zu verarbeiten suchen. Es sind die Flecken auf seinen tiefschwarzen Pupillen, die mir wie kleine Pixel erscheinen und die auch mich irritieren. Vor allem als er mich so unvermittelt ansieht und ein Lächeln über sein Gesicht huscht und er sagt:
„Venedig! – Noch einmal Venedig...“
Er macht eine lange Pause und flüstert ganz leise: „Sehen und dann… sterben!“
Auch Shanghai – nennt er – die asiatische Stadt, die immer sein Traumort war, an dem er oft gewesen und einige Zeit auch leben durfte, zumindest für eine kurze Arbeitszeit. Erst Anfang dieses Jahres war er dort.
„Da habe ich mir nochmal den Bauch vollgeschlagen, mit diesen kleinen Krebsle, die ich so gern esse und die es nur dort gibt.“
Alles... wenige Wochen zuvor….
Bevor die Katastrophe, diese schrecklich aggressive Krebsform in sein Leben einbrach und ihm binnen Tagen seinen Körper raubte! Seine Halswirbelsäule und der Lendenbereich waren da bereits von Metastasen befallen. In Windeseile griffen sie auf andere, innere Organe, über. Dennoch… nahm er den Überlebenskampf auf… obwohl die Ärzte schon bei der Erstdiagnose das „weit fortgeschrittene Stadium“ diagnostizierten. Und sehr wenig Hoffnung bestand. Zwei oder drei Monate lautete damals deren Prognose. Diese Woche hat er das fünfte Überlebens-Monat vollendet.
„Doch zu welchem Preis!?“ – meint bitter seine Frau, unsere gute Freundin C., als wir am Krankenbett sitzen. Sie, die seitdem übernatürliche Kräfte aufbringt, um ihm in den letzten Wochen beizustehen. Die „durch die Hölle geht“, wie sie uns immer wieder, bei jeder Zusammenkunft in den letzten Wochen berichtet. Es sei für sie wie ein „nicht enden wollender Albtraum", aus dem man aufwachen möchte, es aber nicht täte.
„Wir wollten zusammen alt werden und jetzt werde ich Witwe“, meinte sie vor vier Tagen am Telefon zu mir, als sie uns die Schreckensnachricht überbrachte, dass er im Sterben läge und sich von uns verabschieden wolle.
Sie erzählte von den beiden Wochen davor, jenen der Hoffnung.
Eine Hoffnung, die sich vor zehn, zwölf Tagen, auftat… als er in der REHA… vom gemeinsamen Aufbruch… von seinem unbändigen Lebenswillen, der ihn „über seine menschlichen Kräfte hinauswachsend“ in der REHA für das Leben kämpfen ließ… in die er nach der zweiten Chemo- und Bestrahlungswelle überstellt… bis er dann jäh zusammenbrach, als sie schon wieder zuhause… um das Haus auf das gemeinsame Pflege-Über-Leben mit ihm vorzubereiten…
Doch da… hatte er – noch am Kurort - plötzlich diese Lähmungserscheinungen im linken Bein…. Er konnte nicht mehr auftreten und zugleich übergab er sich. Pausenlos!
Daher transportierte man ihn sofort in die Klinik zurück… mit dem schlimmsten Verdacht… zuerst wegen des Beins… mehr aber wegen des ständigen Erbrechens…
„Der Krebs, die Metastasen haben die Hirn-Blut-Schranke durchbrochen. Es gibt keine Heilung mehr. Keine Rettung. Keine Hoffnung. Die Oberärztin habe aufgehört die Metastasen in seinem Gehirn zu zählen. Es sei einfacher zu sagen, wo noch keine Metastasen wären… daraufhin habe B. sich entschieden, von allen Menschen, die ihm wichtig sind, Abschied zu nehmen.“ - erzählt die Freundin, als wir auf dem Balkon des Krankenhauses stehen, weil B. sich drinnen erbricht.
Sie stockt in ihrem Bericht und geht zurück ins Zimmer. Es hört sich schlimm an, wie er drinnen erbricht. Als ob sich das Innerste aus seinem Körper nach draußen wendete. Stumm warten wir auf dem Balkon, der alle Zimmer dieser Palliativstation umrundet.
Alter Egon und ich sagen beide nichts. Hören nur aus dem Inneren die wiederkehrenden Brechgeräusche.
Schweigend blicken wir über die Wipfel der Bäume, die sich zwischen den Gebäudeteilen dieses Krankenhauskomlexes erstrecken, hinweg… unser Blick verliert sich in der Ferne. Ich denke nichts. Irgendwie ist mein Hirn völlig leer.
Plötzlich gellende Schreie.
Von B.: „… ich kotze… ich kotze alles voll!“
Betroffen stürze ich ins Zimmer und sehe B. in Panik aufgelöst mit dem Brechbeutel in der Hand. Der ist beinahe zu einem Drittel mit gelbgrüner Flüssigkeit gefüllt. In einem breiten Schwall ergießt sie sich aus seinem Mund in den Vollbart. Geistesgegenwärtig greife ich die Serviette, die auf dem Tischchen neben ihm liegt, um den Schwall dieser übel riechenden Flüssigkeit, die aus seinem Mund bricht, aufzufangen und den Bart von dem giftgrünen, klebrigen Gemisch zu befreien. Mittlerweile kommt unsere Freundin C. ins Zimmer zurück. Gleich werde ein Pfleger kommen, teilt sie mit.
B. schimpft vor sich hin, dass es immer viel zu lange dauere bis die Schwestern auf sein Notsignal hörten und endlich einer käme, doch er hätte ja nun "Schwester Teresa".
C. hört stumm zu und öffnet eine Schublade an dem kleinen Tischchen am Fußende des Bettes, zieht sich einen Einmalhandschuh über, reißt eine kleine, graue Tüte von einer Rolle und nimmt B. den Brechbeutel und mir die versiffte Serviette ab, um sie darin im nebenstehenden Mülleimer zu entsorgen. Dann steht sie auf und geht zum Waschbecken, wäscht sich die Hände, desinfiziert sie mit einer Paste, die auch ich anschließend benutze, und meint zu B. gewandt: „Sei mir nicht böse, ich möchte gerne heimgehen. Ich kann nicht mehr. Heute Nacht habe ich kaum geschlafen.“
B. nickt ihr verständnisvoll zu und sagt: „Ja, geh nur.“
Er wendet sich uns zu und meint: „Und wir. Wir machen noch ein Weilchen. Ja? Wie spät ist es? Halbsieben? Ja, dann machen wir noch bis sieben. Ja?“
Alter Egon und ich nicken. Beide gleichzeitig und stumm.
B. drückt den Knopf neben seinem Bett, mit dem er die Kopfstütze elektrisch heben und senken kann. Er darf ja nur noch reglos liegen. Seine einzige körperliche Beweglichkeit besteht im Hochfahren und Absenken der Kopfstütze seines Bettes. Er senkt sie wieder in die Liegeebene hinab.
C. gibt ihrem Mann die Hand, drückt sie leicht und wendet sich uns zu. Alter Egon umarmt sie lange.
Ich gehe mit ihr hinaus.
Vor dem Zimmer sagt sie zu mir, die Pfleger hätten ihr am Tag davor angeboten, ein weiteres Bett zu dem ihres Mannes hinzu zu stellen, damit sie nun auch nachts bei ihm sein könne.
„Ich kann das nicht!“, sagt sie in entschuldigendem Ton zu mir, „ich brauche wenigstens die Distanz der Nachtruhe, sonst stehe ich das nicht mehr durch.“
Ich sage nichts, ich umarme sie nur. Lange. Halte sie sehr lange in meinen Armen und spüre die Kraftlosigkeit die von ihrem Körper ausgeht, einem weichen Frauenkörper, der sich in meinen Armen wie eine überlebensgroße, weiche Stoffpuppe anfühlt. Ich habe das Gefühl, dass wenn ich sie nun losließe, sie mir zusammenfällt, eben umkippt wie eine solche Stoffpuppe, die keinen Halt mehr hat. Und vielleicht würde sie sich selbst auch gerne fallen lassen, kann es aber nicht. Da sie sich ihre Kraft von einem Tag immer bis zum nächsten aufsparen muss.
So stehen wir… gefühlte fünf, zehn oder auch fünfzehn Minuten da. Es ist mucksmäuschenstill auf diesem Flur. Kein Laut dringt aus einer der vielen Türen rechts und links heraus. Ich halte sie einfach nur in meinen Armen und streichle ihr über die Wange.
„Schön, dass Ihr noch bleibt…“ – meint sie schließlich, löst sich aus meinen Armen. Ich gebe ihr noch ein Küsschen auf die Wange. Ein Lächeln huscht da über ihr Gesicht. Sie drückt meine Hand und wendet sich dem Aufzug zu, der schon eine ganze Weile geöffnet steht.
Auch mir geht es plötzlich selbst so, dass ich ein wenig Abstand brauche… ich kann noch nicht zurück in dieses Krankenzimmer… und schlendere den – wie mir scheint – unendlich langen Gang der Palliativstation entlang.
Totenstill ist es hier.
Es ist so ganz anders als auf anderen Stationen eines Krankenhauses. Auch anders als auf einer Intensivstation. An einigen Türen hängen bunte Papierblumen, wie man sie manchmal in Kindergärten aus leuchtend buntem Krepppapier bastelt. Auch einige bunt bemalte Bilder, meist mit Herzmotiven zieren einige Türen. An zwei Türen, an denen sogar um den Türstock herum unzählige bunte Kreppblumen drapiert sind, hängen mindestens DinA-4-große, weiße Zettel, auf denen steht:
„Nicht ohne Stationspersonal betreten!“
Ob im Zimmer dahinter ein verstorbener Mensch liegt? – frage ich mich.
Ich war noch nie auf einer Palliativstation.
Ich habe noch nie einen Menschen, der mir nahesteht, im Sterben begleitet und bewusst Abschied genommen!
Dieses bewusste Abschied nehmen von einer lieben Person, die einen großen Teil ihres Lebens mit meinem verbunden hat, habe ich so bewusst noch nie erlebt.
Es ist das erste Mal.
Es ist schrecklich!
Es ist so nahe gehend. Es ist nicht fassbar.
Und es ist furchtbar, den anderen so leiden zu sehen. Trotz des Morphiums, das er bereits erhält.
Trotz aller Schmerzlinderungen, die die heutige Medizin, ihm ermöglicht und vor allem trotz der hingebungsvollen und fürsorglichen Pflege, die jene Menschen, die auf solchen Palliativstationen ihren Dienst tun, dem anderen angedeihen lassen.
Es ist ein Spagat zwischen dem medizinisch Notwendigem und dem Erhalt von Menschenwürde, den alle hier vollbringen. Um einem anderen Menschen auf seinem letzten Weg noch ein letztes Quäntchen an Lebensqualität zu ermöglichen und einen Rest an Menschenwürde zu wahren.
Als ich zu B. ins Zimmer zurücktrete,
fachsimpelt er gerade mit Alter Egon über Computer.
Ich hole mir einen Stuhl und setze mich daneben, damit B. nur noch in eine Richtung zu blicken und nicht mehr den Kopf hin- und her drehen braucht, was er immerhin noch kann. Auch den Mund wischt er sich zwischendurch mit einer feuchten Papierserviette ab, denn während ich mit C. vor der Tür stand, hat er erneut erbrochen… Jetzt nimmt er eine Schnabeltasse und trinkt und ist beinahe wieder ganz der alte, wie er spricht…
Ich verstehe nur Bahnhof, entnehme dem Gespräch jedoch, dass es um wichtige Dokumente geht, die er in pdf`s auf seinem Rechner gesichert hat… es geht auch um wichtige Gas- und Telefonie-Verträge – „für Handy und Fetnetz“ – der eine würde im Juli fällig, der andere erst im November… die Passwörter… habe er alle in ein kleines Büchlein geschrieben, das er seiner Frau, unserer Freundin C., schon geschrieben… Das Hauptpasswort habe „75 Stellen“ – aus einem Generator kreiert…
Eine ganze Weile sitze ich still daneben, höre nur zu… Es ist das Vermächtnis, sein letzter Wille, den er uns kundtut, die Bitte, C. hinterher bei all den Dingen „rund ums Haus“ zu unterstützen, damit „sei sie immer schon überfordert gewesen“, meint er… ich lächle.
B. lächelt zurück und ich höre mich sagen: „Wir werden C. bei allem unterstützen.“ Alter Egon nickt.
Mittlerweile ist aus der halben Stunde fast eine Stunde geworden, seit C. gegangen…
Es ist kurz vor halb-acht.
Ich spüre, dass der Abschied naht.
Ich nehme wieder B.`s Hand und streichle sie ganz sanft. Alter Egon stellt die Blumen, die wir mitgebracht, die B. sich gewünscht, auf ein anderes Tischchen in B.`s Sichtweite.
B. schließt – wie schon oft in der letzten Stunde - die Augen und spricht mit geschlossenen Augen und sehr leiser Stimme zu uns. Ich rücke noch näher heran, weil sonst seine Stimme kaum zu hören ist. Seine linke Hand ruht in meiner, während er mit seiner rechten ein total verwaschenes, flauschiges Stofftier - vermutlich aus Kindheitstagen – an seine Brust drückt. Mag sein, um den Körper, der unter einem ständigen Zittern nun leicht vibriert, zu stützen.
„Frisch frittierte Calamari – die würde ich gern nochmal essen“, sagt er dann zu mir. „Den Geschmack und den Geruch von frisch frittierten Calamari, den habe ich gerade ganz intensiv in der Nase. Das wär`s!“
Dann schlägt er die Augen auf, legt das Stofftier zur Seite, zieht seine linke Hand aus der meinen, drückt seinen elektrischen Knopf und fährt sein Bett wieder in die Diagonale.
„Und Ihr, Ihr macht endlich Eure Küche!“, sagt er dann. „Das hattet Ihr doch schon 2006 vor. Jetzt wird`s aber mal Zeit. Nicht dass ich dann da oben bin und sehe, dass es wieder nix wird.“
Spricht`s und hebt mahnend den einen Zeigefinger. Lacht und meint: „Ich habe C. meine liebsten Rezepte in das Büchlein geschrieben.“
„Auch Dein geniales Pizzarezept?“ fragt Alter Egon.
„Auch das…“, lächelt B., „aber das kriegt ihr erst, wenn Eure Küche fertig ist.“
Und während er noch lacht, bricht er plötzlich bitterlich in Tränen aus… und es dauert nicht lang und wir heulen zu Dritt, während Alter Egon ihm den Arm streichelt und sagt: „Aso dann… mach`s gut… und wir sehen uns… ja irgendwann wieder…“
Und da lacht B. plötzlich wieder und ruft: „Aber das dauert noch lang… das sag ich Euch.“
Und es entsteht ein Augenblick der Stille. Und dann schaut er uns an und sagt zu uns beiden gewandt ganz ernst: „Noch 43 Jahre!“
Wir heulen wieder und drücken seine Hände, denn was anderes dürfen wir ja nicht mehr drücken.
Ich streichle noch mal sein Gesicht und trockne mit einem Tüchlein, das neben seinem Kissen liegt, seine Tränen vom Gesicht… und dann stehen wir auf… und sagen nur noch: „Also dann mach`s gut…“
Und er: „Und Ihr auch… und vergesst die Küche nicht… ich sehe alles… von da oben…“
Und da drehen wir uns nochmal um und winken…
...und sind draußen aus der Tür und fallen uns in die Arme und heulen nochmal eine Runde. Weil es so fürchterlich ist und so schrecklich.
Und Alter Egon spricht: „Er ist so tapfer. So tapfer!“
Wir gehen noch lange nicht nachhause, können es nicht, laufen zu Fuß mehrere Kilometer von diesem Ende der Stadt bis zu unserem Auto am Rand der City… bleiben noch zweimal in Kneipen hängen… und reden…. Lassen diese Freundschaft Revue passieren… reden über das, was uns wichtig erscheint… fühlen uns irgendwie… leer… aber auch friedvoll… und sind oft minutenlang still. Sehr traurig. Ein jeder hängt seinen Gedanken nach. Seltsamerweise fühlen wir uns jedoch nicht mitgenommen. Es ist beinahe so, als ob uns irgendetwas Kraft gäbe.
Nachts…
...finde ich lange keinen Schlaf…
irgendwann… erwache ich wieder…
Draußen beginnt ein Vogel leise zwitschernd den anbrechenden Morgen zu begrüßen…
Da fange ich urplötzlich an, still für mich, in Gedanken, zu beten und für ihn zu erbitten: „Lieber Gott… lass` B. nicht mehr allzu lange leiden… erlöse ihn!“
Teresa HzW - 21. Jun, 16:24 - Rubrik Paternoster
Was soll man da schreiben. Vor einem Jahr ist mein Schulfreund gestorben. Nierenkrebs, fast ausgeheilt, nach fünf Jahren neue Metastasen. Er hatte einen unbändigen Lebenswillen. Die Ärzte hatten ihm eine Zeit gegeben, die er um 5 Jahre überlebt hat. In der kalten Jahreszeit hat er Vorlesungen in Portugal gehalten. Zum Schluss saß er im Rollstuhl in der Oper oder in der Volksoper oder im Burgtheater, obwohl er ja eigentlich in Basel lebte. Schlußendlich Metastasen in der Lunge. Davor Interferonbehandlungen, die alle halben Jahre verändert werden mussten. Dann war er wieder 3 Wochen in absolut erbärmlichen Zustand. Es ist schwer, einen Menschen sterben zu sehen. Ja, und gleichzeitig hat meine Frau den Tod ihrer Schwester erlebt. Sie und eine andere, die Zwillingsschwester lösten sich in der Heimpflege ab. Knochenkrebs, Blindheit, Versagen der sensorischen Einheiten und schließlich Versagen des Hirns.
Wir sollten etwas davon lernen, sei es Dankbarkeit oder Demut.
Was ich aber lerne, ist der Glaube an meine Lebensphilosophie. Es gibt nur eine Kategorie, die ist "das Leben".
@Steppenhund
Auch bei unserem Freund ist der Primärtumor ein Nierenzellkarzinom... wer weiß... ohne die vielen Metastasen hätte er vielleicht auch noch ein paar Jahre... vorgestern meinten die Ärzte, dass wohl beide Chemos nicht gegriffen hätten...
JA - was soll man da sagen!?
Ich empfinde - seit dem Nachmittag auf der Palliativstation - ähnlich wie Du: Dankbarkeit und auch eine Art Gnade, leben zu dürfen!
Der Abschiedsbesuch bei B. hatte für mich eine weitere Erkenntnis, die um so mehr Stunden er zurückliegt, um so wirkmächtiger wird: Es ist wichtig, seine Träume zu leben, seine Wünsche und Bedürfnisse in diesem Leben zu verwirklichen - wenigstens es zu versuchen!
Bewegt bin ich immer noch von der Einfachheit der Dinge, die B. mir nannte, die er gern nochmals getan hätte!
Gestern brachte ihm seine Frau, unsere Freundin C., einen Meeresfrüchte-Salat mit - aus dem Lieblingsrestaurant von B. - das etwa 100 Kilometer entfernt... das finde ich auch sehr bewegend!
Nochmals ganz lieben Dank für Deine Anteilnahme, lieber Hans.
Mit liebem Gruß Teresa