Parallelgeschichten

Wer den Titel liest, denkt sofort an Beziehungsgeschichten. Eine Liebesgeschichte. Eine parallel laufende Beziehungskiste.
Nichts von alledem.
Zumindest bisher nicht.
"Kann ja noch kommen…", meinen Sie?
Das glaube ich irgendwie nicht.

Immerhin habe ich heute Nacht die einhundertzweiundsiebzigste Seite geschafft und damit zehn Prozent des 1724 Seiten starken Wälzers von Péter Nádas. Ich lese ihn ja zu "Lern“zwecken, wie ich Ihnen, liebe Leser-innen-Kommentator-innen, bereits am Tag des Buches berichtete.

Immerhin… mir sind heute Nacht gleich mehrere Dinge klar geworden:

1. Es ist ein sehr gut geschriebenes, aber auch sehr anstrengendes Buch. Nádas drechselt seine Sätze in einer sprachlichen Fülle und von einer solchen Eleganz wie sonst nur ein Kunsthandwerker einen schönen alten Stuhl.

2. Hier berichtet ein auktorialer Erzähler, auch wenn es manchmal den Anschein hat, dass sich ein personaler Erzähler dazwischen schiebe. Einen solchen Eindruck hätte ich aus Kapitel 1 und 2 und stellenweise auch aus dem fünften [in dem ich noch lese] gewinnen können. Perspektivisch ist das fünfte Kapitel das bisher interessanteste, weil der Nádas mehrmals die Erzählerbrille wechselt. Wie er das von leichter Hand hin-schreibt, ist schon grandios.

3. Thematisch geht es bisher ums Sterben oder den Tod. Denn
Kapitel 1, mit der Überschrift Vatermord, beginnt damit, dass ein Toter im Berliner Tiergarten aufgefunden wird. Die erzählte Zeit ist die Gegenwart – also quasi der Zeitpunkt, zu dem ein[e] Leser[in] in das Buch einsteigt.
Kapitel 2, betitelt mit Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt ist eine Art Fortsetzung des ersten Kapitels, und schildert – nach meiner Interpretation – mehr oder weniger das Sterben einer Familienbeziehung – zwischen einer Tante und ihrem Neffen [derselbe, der in Kapitel 1 den Toten im Tiergarten findet]. Die erzählte Zeit ist noch immer die Gegenwart; der Ort der Handlung Düsseldorf.
Kapitel 3, Ein herrschaftliches Haus, schildert auf 49 Seiten jenes villenartige Gebäude der k.u.k-Monarchie, das irgendwo in Budapest steht und die früheren und aktuellen Bewohner einer Wohnung bzw. jene Menschen, die über Jahrzehnte zum Inventar des Hauses gerieten. Es stirbt der Besitzer der Wohnung. Bei der erzählten Zeit bin ich mir nicht sicher: Es könnte Ende des 19. Jahrhunderts oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein.
Kapitel 4, Isoldes Liebestodlied, schildert eine grausliche Kriegsepisode am Ende des zweiten Weltkrieges, das grauenvolle Sterben von Lagerinsassen, die in einem von den Wärtern gelegten Feuer grauenvoll umkommen, mit Ausnahme einer Handvoll Gefangener. Drei von Ihnen entkommen zuerst dem Lager und metzeln ihrerseits einen der Wärter in seinem Haus grausam nieder. Während eine andere Gruppe von 25 Gefangenen, ebenfalls dem Inferno entkommend, einige Häuser eines nahen Ortes in Brand setzen, bevor sie alle von den Einwohnern erschlagen werden. Ort der Tragödie: Irgendwo im Rheinland. Mein Eindruck, dass der Vater oder Großvater des Protagonisten aus Kapitel 1 und 2 der Wärter ist, der hier zu Tode kommt.
In Kapitel 5 , Jeder in seinem Dunkel, sitzen drei Männer am späten Morgen in einem Budapester Thermalbad, sie kennen sich sehr gut, scheinen zu einer bestimmten [Macht- oder Polit- oder Geschäfts-]-Elite zu gehören. Es sind jedoch keine Ungarn, weil der neue Bademeister, der ihre Unterhaltung belauscht, rätselt, welcher Nationalität sie angehören, da ihr ungarisch so schlecht ist. Sie unterhalten sich über das Wettrüsten und könnten auch Waffenhändler oder Waffenschieber sein. Also auch wieder Leute, die [anderen] den Tod bringen. Aufgrund des Themas "Wettrüsten, Aufrüsten" könnte dieses Kapitel entweder vor einem der beiden Weltkriege oder Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre angesiedelt sein.

4. Es ist anstrengend zu lesen, weil ein[e] Leser[in] sich sehr viele Personen zu merken hat. Wer weiß, ob die alle später nochmals eine Rolle spielen!?

5. Bei anderen Schriftstellern wäre nun schon die Hälfte der Geschichte erzählt. Als Leser[in] wüsste ich, wer mit wem und gegen wen. Fallstricke, Hürden, Schicksale, Tragik und Tragödie wäre bekannt. Hier ist alles noch offen! Das macht einerseits den Reiz des Weiterlesens aus. Irgendwie will ich wissen, wie es weitergeht; weil eigentlich warte ich dauernd darauf, dass der Protagonist aus Kapitel 1 und 2 wieder auftaucht… naja… noch 33 Seiten, also im übernächsten Kapitel, dem siebten, werde ich dann [hoffentlich!] erfahren, dass „Döhrings Traum geht weiter“.

6. Allerdings frage ich mich, wie lange ich das Lesen dieses Buches [noch] durchhalten werde… denn eigentlich wäre mir jetzt… im Wonnemonat Mai… eher nach einer heiteren, leichten, unbeschwerten Liebesgeschichte zum Lesen zumute… wie einst… vor zwei Jahren… Max Frisch` Montauk. Das war doch eine richtig schöne Beziehungs-Liebes-Geschichte für ein Wochenende! Und auch gut geschrieben!

7. Oder wieder einmal…. Julio Cortázar
Eine Reise um den Tag in achtzig Welten. Letzte Runde. Das liegt hier und wartet darauf, gelesen zu werden… hineingelesen habe ich bereits. „Cortázar reist in achtzig Welten durch Worte und Taten von Künstlern und berühmten Verbrechern und erzählt von seinem eigenen politischen Engagement in Lateinamerika: komisch traurig oder ernst, meist alles gleichzeitig“ – heißt es auf dem Klappentext. Und im Buch: „Ich werde wie folgt vorgehen: zuerst werde ich mir meine knallgelbe Krawatte umbinden, dann werde ich die schlankeste und lebhafteste meiner Ameisen dazu erküren, auf ihr spazieren zu gehen. So wird es ein doppelter Spaziergang sein, der meine, der mich vor das Haus von Monsieur Silicose führt, und der meiner Ameise auf meiner Krawatte. Habe ich gesagt, ein doppelter Spaziergang? Eher eine unendliche Spirale von Spaziergängen…“
In der Phantasie spatzwandeln, ja das können sie, die Südamerikanischen Schriftsteller. Sie entführen einen in ferne Welten; gleichsam als ob man ein Raumschiff in eine andere Galaxie besteige. Dabei lernt man viele interessante Menschen kennen und schwebt auf einem Klangteppich bunter Laute dahin. Denn… auch dies eine Erkenntnis der heutigen Lese-Nachtstunde: Bei südamerikanischen Autoren spielt immer auch die Musik eine Rolle. Ohne Jazz, ohne Tango, ohne Cumbia, ohne den klebrigsüßen Klang der Mandolinen und Bongos, den Fado einer Flamencogitarre geht es nicht. Jaja, die Südamerikaner, sie lassen einen als Leser[in] entschweben!

8. Anders die osteuropäischen Autoren. Sie holen einen auf den Boden der Tatsachen, stoßen einem den Kopf auf die nackte Realität, auf die Grausamkeiten der Geschichte und ihrer Geschichten. Es scheint wirklich ein Kennzeichen der östlichen Schreib-Welt zu sein, detailgetreu die Grausamkeiten von Krieg und Gewalt zu schildern. Wobei Gewalt auch in Form von ausführlichen Alkoholexzessen gern geschildert wird. Obwohl… das kommt auch bei amerikanischen Autoren vor. Genauso wie wir Leser[innen] die Ausführlichkeit einer Sexszene von amerikanischen Underground-Schriftstellern her kennen. Insofern schockt einen die Masturbationsszene von Nádas auf S. 117ff nicht wirklich. Sie kontrastiert eher die nachfolgende Mordszenerie. Wiewohl mir die sich anschließende Badeszenerie im Budapester Lukásc-Bad den krasseren Kontrast bildet.

Aber vielleicht sind Péter Nádas Parallelgeschichten auch eher ein Buch für Männer als für Frauen!?
1722 mal gelesen
Bubi40 - 7. Mai, 09:25

irgendwie, liebe Teresa, sind wir so etwas von divergent, wie es divergenter nicht geht ...
meine volle bewunderung gebührt dir, die du nur zu lernzwecken ein werk von 1724 seiten zu lesen bereit bist ...
mir würde das im leben nicht einfallen ... ;-)
aber es ist ja ohnehin bekannt, dass ich ein fauler zeitgenosse bin. meine arme geplagte mama musste einige male, schon in der grundschulzeit, mit mir bei "FRÄULEIN GERICKE", meiner etwa 60 jährigen klasselehrerin (klein, grauhaatig mit dutt) antanzen. diese besuche sind mir noch heute horribel ... nur, genutzt haben sie nichts ... wie man unschwer erkennen kann ... ;-)))

Teresa HzW - 7. Mai, 21:59

Es lebe der Unterschied :-)

"Sehr geringe Unterschiede begründen manchmal sehr große Verschiedenheiten", meinte schon die weise Marie von Ebner-Eschenbach in ihren Aphorismen, lieber Josef.

Und bittschön`, nur nicht zu viel der "Bewunderung" ;-)
Nádas zu lesen, ist angesichts seiner Erzählkunst ja eher Genuss... eigentlich sind es ja drei Bücher, die Nádas hier in einem einzigen dicken Buch, zusammenfasst... und der dicke Schinken ist alles andere als handlich. Jedes Mal wenn ich seh`, wo das Lesebändchen erst hängt...
... wär` vielleicht anders, wenn ich jetzt eine vierwöchige Urlaubsreise vor mir hätte ;-))

und...
mit dem "faulen zeitgenossen" haste wahrscheinlich wieder Mal schamlos übertrieben ;-))) - denn wer sich stundenlang einen Wagner-Ring [da war doch mal was... vor Monaten ;-)] anzuhören imstande, is ja alles andere als "faul" :-)))
Margit (Gast) - 7. Mai, 12:15

Haben Sie das nötig, ein Buch um das Schreiben zu lernen?

Teresa HzW - 7. Mai, 22:13

Ihre Frage klingt in meinen Ohren fast ein wenig wie eine rhetorische, liebe Margit ;-)
Manchmal ist es ja nicht verkehrt, zu schauen, wie andere ihre Geschichten aufbauen... ansonsten ist der Nádas gewiss nicht das klassische Werk, um das Schreiben einzuüben, weil dafür ist dieses Buch - diese Parallelgeschichten, die ja in Wirklichkeit die Familiengeschichte zweier unterschiedlicher Familien - in Deutschland und Ungarn - sind, viel zu komplex aufgebaut.
Robert (Gast) - 7. Mai, 16:29

Gut, wenn Sie Ihren Schreibstil weiter entwickeln; eingedenk Ihrer Nachtkantineneinträge haben Sie Ihre Stimme gefunden, werte Teresa, evt. ist sie zu festigen, evt. mein einseitiger Eindruck ;=.

Teresa HzW - 7. Mai, 22:17

Tja, man darf halt nie stehen bleiben, nicht untätig sein und ruhen! Jedenfalls freue ich mich, dass Sie meinen, ich hätte meine "Stimme gefunden"... mit dem "festigen" meinen Sie wohl, das weiter schreiben, lieber Robert ;-)) - und das kommt mir grad auch ein wenig zu kurz... *seufz*... da haben Sie schon recht... :-o
Robert (Gast) - 8. Mai, 13:32

einfach weiter darauf losschreiben. das wird!

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