20.11.1913

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

können Sie sich vorstellen, dass heute vor einhundert Jahren der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., wegen „Unschicklichkeit“ das Tango-Tanzen in Uniform verboten hatte.

Dabei hatte alles so sittsam angefangen… in der "academia", wie jenes Café-Restaurant genannt wurde, in dem Frauen bedienten und die Musik auf der Drehorgel gespielt wurde...

Man speiste zunächst im Grünen, mit Blick auf den Rio de la Plata und tanzte zum Nachtisch, verborgen vor den Blicken der Öffentlichkeit, zwischen zwei Gläsern mit der Bedienung, in den Hinterzimmern der Gaststätte.

Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, spielte sich diese Tanzform an ihrer Geburtsstätte in Buenos Aires, an verschiedensten Orten ab: auf den Straßen, in den Innenhöfen der Mietskasernen und in den Lokalitäten wie jenen „romerías, bailetines, bailongos oder eben den academias“. Es waren Lokalitäten, die irgendwo zwischen Tanzlokal und Bordell angesiedelt waren.

Die italienische Drehorgel trug zur Verbreitung jenes Tango bei, den junge Einwanderer zwischen Walzer und Mazurka in der Stadt am Rio de la Plata bei ihren sonntäglichen Hoffesten tanzten. Allerdings ohne jene anstößigen Tanzfiguren, den cortes y quebradas, die man in den academías pflegte.

Dort, in den eleganteren Etablissements sorgten die Pianisten für die Verbreitung des Tango.
Sie waren meist Berufsmusiker und verdienten hier als Alleinunterhalter ihr Geld. Sie tauschten sich unter einander aus und entwickelten so den „Tango para piano" und fixierten sogar ihre Kompositionen schriftlich.
Man erzählt sich, dass ein französischer Geschäftsmann zur Jahrhundertwende in einem solchen Etablissement diesen Tanz entdeckte und von ihm so begeistert war, dass er die Partituren mit nach Paris nahm.





Von dort trat der Tanz seinen Siegeszug um die Welt an.
Kein Anlass war zu nichtig, keine Tageszeit unpassend, um Tango zu tanzen: Man bat mittags zum Tango-Lunch und nachmittags zum Schokoladen-Tango oder Tango-Tee. Abends war Tango-Dinner oder sogar Champagner-Tango angesagt.

Im selben Jahr, in welchem der letzte deutsche Kaiser, seinen Soldaten dieses "Rinnsteinkind“, wie er den Tango verächtlich bezeichnete, per hoch-offiziösem Erlass verbat, adelte ihn ein anderer Staatsmann. Der damalige Präsident der französischen République, Raymond Poincaré, besuchte im Jahr 1913 mit seiner Gattin eine Tanzveranstaltung und schwang das Tanzbein zu... jenem… TANGO.

Als jedoch die Gräfin von Schwerin-Löwitz, Gattin des preußischen Landtagspräsidenten, einen Tango-Tee im Preußischen Landtag veranstaltete und Amtsträger, Diplomaten sowie hohe Militärs ihre Tänzerinnen in sinnlichen Verschlingungen übers Parkett schoben, war`s dem Kaiser "zu fülle“.
Er griff durch.
Wenigstens seine Soldaten sollten dem sündigen Treiben fernbleiben. Am 20. November 1913 erging sein Erlass, der es Offizieren in Uniform verbot, Tango zu tanzen.

Dabei wurde zu späterer Zeit einer der berühmtesten Altmeister des Tangotanzes, Carlos Gavito [*1942, t 2005], nie müde zu betonen, dass die Beziehung zwischen den Tanzpartnern nicht persönlich ist:
„Das einzig persönliche, das stattfindet, ist dass sie beide versuchen, die Musik mit den Füßen zu liebkosen.“





Peinlich genau unterschied er zwischen dem Showtango auf einer Bühne [bzw Straße] und dem Salontango in einer privaten Milonga:
„Beim Showtango geht es ums Geschäft, der soll Einnahmen bringen. Der Salontango soll nur eines machen: Freude bereiten, Tanzen zum reinen Vergnügen.“

Carlos Gavito startete seine Tango-Karriere 1965. Mit der Show „Forever Tango“ tourte er durch die ganze Welt.

Ein Gräuel war ihm stets, dass viele Menschen es beim Tango-Tanzen immer so eilig haben:
„Sie wissen einfach nicht, wie man nichts tut! Ich gebe zu, dass das schwierig ist. Auch wenn man keine Choreografie abtanzt und den Grundschritt mit seinen acht Grundpositionen gelernt hat, den man tanzen möchte. Wenn ich Tango tanze, habe ich so viel Freude an dem einzelnen Schritt, den ich gerade tanze, dass ich wollte, er möge weiter andauern.“

Carlos Gavito verglich diesen Moment gern mit dem Moment des Genusses, der einem widerfährt, wenn einer ein Eis schleckt.
„Als Kinder haben wir diese Köstlichkeit ganz langsam geschleckt, um es so lange wie möglich genießen zu können. Man wusste ja nicht, wann man wieder in diesen Genuss kommen würde. Dieser herrliche Moment sollte nie aufhören. Aus dem gleichen Grund sehe ich keinen Anlass, mich zu beeilen, einen Schritt zu beenden, um einen anderen zu beginnen.“

Es schien ihm stets interessanter, „eine Schrittkombination zu tanzen, dann einen Moment zu verharren, einen winzigen Moment einfach nichts zu tun, sich am eben getanzten Schritt zu erfreuen, um dann fortzufahren.“

Von einem seiner Tanzlehrer, dem Poeten Julián Centeya, nahm er das Credo mit, dass man den Tango "von innen heraus“ tanzen müsse.

Ein anderer Lehrer, der Komponist und Bandleader Miguel Caló, lehrte ihn, wie er auf die Musik des Tango zu achten, sie zu verstehen und sie zu differenzieren habe:
„Höre auf die Musik, gib acht auf die Stimme des Sängers, tanze nur die Stimme! Dann konzentriere dich auf das Klavier. Tanze nur das Klavier."
Er dirigierte ihn, als wäre er einfach ein weiterer Musiker in seinem Orchester.
„Ein guter Tango-Tänzer ist der, der einfach auf die Musik hört!", so Gavito, "schließlich vertanzen wir die Musik und nicht die Schritte. Niemand der wirklich tanzen will, wird an Schritte denken, die er umsetzen will. Er wird sich darum sorgen, der Musik in seinem Tanz zu folgen. Sehen Sie, wir Tangotänzer sind Maler, wir malen die Musik. Musiker, die ein Instrument spielen, benützen ihre Finger, ihre Hände. Tänzer benutzen ihre Zehen.“

Mittlerweile wird der Tango von seinen eigenen Propheten getragen, neben den Altmeistern, den neuen, jungen Lehrern und ihren bekannten Tänzern.
Sie tragen den Tango nuevo von einem Workshop zum anderen, wo sie ihr Wissen an die vielen Tanzbegeisterten des neuen Tango weiter geben.

Dennoch:
Keiner drückt die Eleganz und die Rasse, die diesem Tanz inne wohnt, so gut aus wie der Altmeister Carlos Gavito.




Über die Rolle der Tanzpartnerin sagte Carlos Gavito, der in seinen Bühnenshows nie mit der eigenen Ehefrau tanzte ["weil sie keine Argentinierin"]:
„Eine Frau ist keine Marionette. In Ihren Armen ist sie etwas Kostbares. Behandeln Sie sie auch so.“

Als er dem Reporter des Tanzmagazins ReporTango, aus dem ich hier zitiere, die ideale Tanzpartnerin beschreiben sollte, meinte er:
"Wenn man sich ohne viele Worte versteht."
Man brauche nicht zu sprechen, nicht zu proben. Jeder bemühe sich, seinen Part zu erfüllen.
"Ich führe, sie folgt!"

Seine Idealpartnerin habe daher kein Gesicht, sondern "meine Idealpartnerin ist… der Traum von irgendetwas aus dem realen Leben. Aber dieses Ideal hat kein Gesicht. Sie ist nur da, wenn wir tanzen. Wissen Sie, wenn Sie Tango tanzen, sollten Sie den Tanz mit etwas von Ihrem Leben erfüllen. Wenn Sie Ihr Leben tanzen, tanzen Sie besser.“

Übrigens war der Tango, wie alle anderen Kulturgüter auch, während der Militärdiktatur in Argentinien verboten. Versteckt überlebte er die Diktatur und kehrte hinterher in die Bars, Kneipen und auf die Straßen Buenos Aires zurück.
8622 mal gelesen
flyhigher - 21. Nov, 07:32

Schade. Mit meinen nigelnagelneuen Knien brauch ich wohl nicht mehr Tango tanzen lernen. Nach deinem Beitrag hier hätt ich aber wahnsinnige Lust dazu...

Teresa HzW - 21. Nov, 11:42

Gerade deshalb, sollt`s doch wie geschmiert laufen oder "stöckeln", liebe Flyhigher :-))

Die meisten Tanzschulen bzw. Tangovereine bieten auch Schnupperstunden an, zumal wenn man gesundheitlich nicht weiß, ob`s geht...
hab grad via Google "gespickelt" und staunte nicht schlecht, was ich da in der Nockerlhochburg fand :-)
http://www.tangosalzburg.de/Termine.html

Hast Du`s gut: Bei Euch wird sogar der klass. Tango Argentino gelehrt! ;-)
flyhigher - 21. Nov, 13:07

Ich gebe ehrlich zu, hier im Paradies zu wohnen, nicht nur, wenn es darum geht, Tango-Tanzkurs-Angebote zu checken. Ich kann landschaftlich, kulturell, sportlich und infrastrukturell aus dem Vollen schöpfen. Deshalb lebe ich hier so gern, und freue mich in jedem Urlaub schon wieder auf daheim.
Teresa HzW - 21. Nov, 18:19

Dies Paradies

hat sich bis hier an den Neckarverlauf herum gesprochen ;-)) - wohl der Grund, warum es viele Süddeutsche zum [Zweit]Wohnsitz zu Euch ins Salzburgerland zieht!?
Bubi40 - 21. Nov, 08:51

da kommt man sich ja klein und hässlich vor mit seinen eigenen "gedenktagsbeiträgen".
hier bekommt man bei solchen gelegenheiten eine umfassende und profunde kulturhistorische abhandlung des jeweiligen gegenstandes.
dass sie im falle des tangos bei dir "extra-ordinär" ausfällt, ist natürlich absolut schlüssig und zu erwarten ... ;-)
danke also für eine kostenlose aber eindringliche nachhilfestunde ... ;-)))

Teresa HzW - 21. Nov, 11:45

Hach, jetzt lauf ich gleich ganz rot an, lieber Josef.
Alldiweil war dieser Beitrag längstens überfällig! Mir fehlte nur der richtige Aufhänger, als ich dann gestern Morgen zwischen zwei klassischen Musikstücken auf irgendeinem Klassiksender erfuhr, dass vor hundert Jahren der olle Willy... da dachte ich mir, nu` isses so weit, jetzt musste ran...
zwischen Ripple mit Sauerkraut und Fünfuhr-Tee... isses dann passiert ;-)
Schön, dass es gefällt!
:-))
Jossele - 23. Nov, 11:21

Ein wunderbarer Beitrag zum geliebten Tango.

Ist vielleicht ein Frevel, hier eine Lanze für den finnischen Tango zu brechen, der ja eher in Moll denn in Dur zuhause ist und vielleicht weniger die Kunstform beinhaltet als das Leben selbst.
Selbstredend ist der argentinische Tango DER Tango, ich bin halt eher im finnischen zuhause, wobei der Unterschied marginal ist.

Teresa HzW - 25. Nov, 20:41

Siks´oon mä suruinen

Der Hinweis mit dem finnischen Tango ließ mir keine Ruhe, lieber Jossele, und so machte ich mich auf die Recherche-Socken und... wurde fündig bei Toivo Kärkis "Siks´oon mä suruinen" (zu deutsch: "Deshalb bin ich traurig"). Dieser Tango läutete zur Zeit des zweiten Weltkrieges die Hochblüte des finnischen Tango ein. Toivo Kärki (1915-1992), ursprünglich Jazzmusiker, verband die Sentimentalität russischer Romanzen mit dem Rhythmus deutscher Marschmusik.

Nachfolgend der finnische Tango - dargeboten in seiner Ursprungsversion von anno 1944




und in einer modernen Version - gesungen von Martin Alvarado, einem der besten argentinischen Tango-Sänger :-)



Sodele... nu isse vollständig... die verbale Tango-Milonga :-))
la-mamma - 29. Nov, 13:56

ich hab gestern seit langem wieder einmal tango getanzt - noch ganz ohne dieses profunde wissen, das sie da mit uns geteilt haben! vielen dank für den schönen artikel!

Teresa HzW - 1. Dez, 13:08

Best of

Oh, Sie Glückliche, die Sie dieses "Tanz"es mächtig... der mehr als ein Tanz, der eigentlich ein Lebensgefühl ist!

Daher freue ich mich umso mehr über Ihr Feedback,
liebe LA-MAMMA, weil ich wohl wirklich den richtigen Ton mit meinen kleinen Ausführungen hier traf :-))

Ich hoffe, eines Tages auch dazu in der Lage zu sein, mein Lebensgefühl mittels eines Tango Argentino auf irgendeinen Tanzboden "aufzudrücken" - bis dahin höre ich halt nur die Musike von Piazolla, Troilo, Cobiàn, Villoldo, Castillo, Plaza, Rosser, Laurenz, Piana, Contursi oder wie immer die Komponisten des Tango-Genre heißen!
Thomas (Gast) - 7. Dez, 11:12

Toller Artikel...

Gefällt uns wirklich sehr gut. Ganz liebe Grüße aus der Schweiz http://ruli-vins.com/vins-r1-bourgogne.html

Teresa HzW - 8. Dez, 19:00

Mit einem Viertele bei der Hand liest er sich gleich flüssiger ;-)
Vergältsgott auch für`s Dääfeli!
:-)

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