Beckettsch
Ein Mann durchschreitet den Raum. Mit weit ausgreifenden Schritten läuft er nach vorne, dreht sich nach links, eilt mit sechs, sieben Schritten über den kahlen, weiss gekalkten Platz. Hinüber zu dem einzigen Baum. Der in gleißendem Lichte steht. Sein Blätterwerk versengt, daher fehlend. Darunter schläft einer. Den Kopf gebettet auf zwei staubigen Ziegelsteinen. Dass der zu schlafen imstande. In diesem hellen Licht. Fragt sich unsereiner, der am Rande der Szene auf nicht minder harten Stuhlbrettern sitzt.
Zwei Bänke. Ein Stuhl. Gehören auch noch zum Raum.
Der eine spricht. Während der andere versucht, sich die Schuhe auszuziehen.
Oben an der Decke, in fünf Meter Höhe hängt eine runde Lichtquelle. Ein altes Teil, anno 1960er Jahre. Könnte aus einem Operationssaal sein. Links davon ein Lautsprecher. Ab und zu schrille Geräusche. Lichtflackern.
Ein heiliger Ort?
Die beiden einzigen Menschen in diesem Raum beginnen miteinander zu sprechen:
Der eine, der schlief, genannt Gogo: "Nichts zu machen."
Der andere, der sich näherte, Didi: "Ich glaub es bald auch."
So beginnt einer der berühmtesten Dialoge zwischen zwei Menschen, die sich fortan absurd und surreal verhalten. Was sich abspielt an diesem Ort, ist einzig den Dialogen dieser beiden Menschen zu entnehmen. Später gesellen sich für ein paar kurze Minuten zwei weitere Gesellen hinzu. Sie sprechen über den Zustand des Menschen. Ihren eigenen Zustand, der zugleich stellvertretend für die Zustände und Befindlichkeiten so vieler Menschen [auch heute noch] steht.
Zu sehen sind die Grausamkeiten, die sich Menschen in ausweglosen Situationen und nicht nur das, schlicht im Alltag, antun [können werden]:
Alle blicken zum Himmel, außer einem, der wieder vor sich hinträumt.
"Willst Du den Himmel wohl anschauen, Du Schwein?", herrscht der eine, der den Herrn und Gebieter mimt, der Pozzo, den Träumenden, an, der an einer Leine wie ein Stück Vieh durch den Raum geführt wird. Er zieht dabei am Strick, dass es den Geführten, Lucky, herumreißt.
Unsereiner wird in diesem Raume Zeuge von Vorgängen, die sich so oder ähnlich immer wieder abspielen. Nur in anderem Gewande. Vorgänge von schonungsloser Grausamkeit sind zu hören, auch zu sehen, durch die die einzelnen Personen Zeugnis ablegen, von dem, was sie gesehen oder was sie sich erhofft oder noch erhoffen, etwa als der Ziegenhüterjunge kommt:
"Du sollst herkommen", wird er von den beiden Landstreichern Gogo und Didi angeherrscht.
Der vormals Schlafende Gogo herrscht ihn an:
"Warum kommst Du so spät?"
Der andere, unruhige Raumschreiter Didi:
"Du sollst herkommen, wurde gesagt!"
Gogo: "Warum kommst Du so spät?"
Didi: "Bringst Du eine Nachricht?"
Junge: "Ja."
Gogo: "Dann mal los!"
Junge: "Es ist nicht meine Schuld!"
Gogo: "Ist es vielleicht meine?"
Junge: "Ich hatte Angst."
Gogo: "Angst wovor? Vor uns?" Pause. "Antworte!"
Didi: "Ich weiß schon, die anderen [er meint damit den Herrscher Pozzo und seinen "Hund“ Lucky] haben ihm Angst eingejagt."
Gogo: "Wie lange bist Du schon hier?"
Junge: "Schon eine Weile!"
Didi: "Du hattest Angst vor der Peitsche?"
Junge: "Ja."
Didi: "vor dem Geschrei?"
Junge: "Ja."
Didi: "Vor den beiden Herren?"
Junge: "Ja."
Didi: "Kennst du sie?"
Junge: "Nein."
Didi: "Bist du von hier?"
Junge: "Ja."
Gogo: "Ist alles gelogen!"
Was gelogen ist und was nicht, darüber kann sich unsereiner selbst ein Urteil fällen.
Jedenfalls durchdringt die Rolle jeden einzelnen der fünf Schauspieler, die an diesem Abend auf der Alten Probenbühne des Berliner Ensemble stehen, denn Samuel Beckett verlangt ihnen alles ab, auch dem einen oder anderen Zuschauer, der sich zu weit nach vorne gesetzt in
Es ist nicht so, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie sich bei dieser Probe in einen roten Plüschsessel zurück- oder auf eine Armlehne aufstützen könn[t]en, sich im Dunkel des Zuschauerraums zurücklehnen dürf[t]en.
Gerade in solchen Augenblicken werden Sie eingebunden und dann landet neben Ihnen garantiert der große, schlanke Didi auf dem Stuhl. Jedenfalls, wenn Sie in der ersten Reihe sitzen. Oder er hält Ihnen die Kamera vor die Nase und knipst Sie einfach.
Auf alle Fälle sollten Sie in der Theaterpause gut gevespert haben, denn Sie bekommen danach vielleicht eine angebissene Möhre in die Hand gedrückt [je nachdem, wo sie wiederum sitzen]. Obacht! Nicht aufessen! Sonst riskieren Sie einen Tobsuchtsanfall Gogo`s. Weil der kriegt irgendwann im Verlauf der zweiten Halbzeit [äh der Aufführung] Hunger und fordert seine "weisse“ Möhre zurück.
Auch der nette Herr in der Mitte der zweiten Reihe darf Didi`s Hut, den dieser ihm zuwirft, nicht behalten, sondern am Ende der Vorstellung zurückgeben. Es wird also nichts mit einem Souvenir eines [ein]ge[sch]witzten Berliner Ensemble-Schauspielerkopfs wie Axel Werner, der den Didi grandios verkörpert.
Obschon es mir das wert wäre, die nächste Probe erneut zu besuchen, mich justamente dahin zu setzen, wohin der Hut fliegt, und dann in dem Augenblick, in dem Didi in den hinteren Raum der Bühne mir den Rücken zuwendend zurückeilt, schnell zu verschwinden.
Es wäre mir das wert, Leser[in]! Dieses Erinnerungsstück an einen Schauspieler, der sein Metier bis ins letzte Zucken einer Gesichtsfalte beherrscht.
Manchmal schien mir das Schauspiel, das sich vor mir und um mich herum abspielte, das Spiel zwischen Schauspieler und Publikum, das ebenfalls zu sehen war, fast wie das Verhältnis zwischen Priester und Andächtigen. Der Schauspieler als Priester ruft das an, was in jedem von uns steckt.
Achja, der der die Möhre erhielt, hatte übrigens davon abgebissen, aber das sah Gogo an diesem Abend nicht. Ei-Ei! Glück gehabt! Sonst...
Tabori`s Schauspieler [denn gespielt wird "Warten auf Godot" in einer Inszenierung von George Tabori!] entblättern jedenfalls das, was auch in des Zuschauer`s Mensch[sei]en steckt: in jenen, die keine intellektuellen Schranken errichten und nicht allzusehr versuchen, Beckett`s Botschaften zu analysieren. [Dazu bin ich auch nicht fähig. Bei diesem Stück. Vielmehr vermag ich nur zu be-schreiben, was um mich herum vor sich ging].
Dennoch haben wir ihn [Beckett natürlich! Gott hab` ihn selig] gefeiert!
Gelacht und gerufen!
Gelabt und bereichert den Saal verlassen, nach zweieinviertel Stunden.
Mit leichtem Herzen und seltsamerweise voll irrationaler Freude: Über ein Stück und über Schauspieler, die [wie ich es selten sah] wahrhaft beckettsch spielten!
Teresa HzW - 18. Jun, 18:00 - Rubrik Andern[w]Orts
Warten auf Godot
Wer weiß, ich komme nun öfters nach Frankreich... und vielleicht dann auch mal in den Genuß einer französischen Aufführung ;-)