Friesenglück
Was ist das [kleine] Friesenglück? – frage ich mich an diesem Morgen, der der letzte im hohen Norden sein wird.
Ein Morgen, an dem ich - wie die Tage zuvor - gegen fünf Uhr in der Frühe, die Sonne hatte sich noch auf der anderen Seite der Welthalbkugel versteckt, zur blauen Stunde vom lauten Motorengeräusch eines Treckers wach werde. Jedoch nicht irgendeines Treckers. Er ist einer jener Traktorgiganten, die ich bisher nur aus Fernseh- oder Videobeiträgen [wie diesem rosa verlinkten] kenne.
Ich staunte nicht schlecht, als ein solcher vor acht Tagen zum ersten Mal neben unserem Auto stand. Ein PS-Gigant neben dem sich der PKW wie eine Ameise ausnahm. Ich hätte wohl eine kleine Stehleiter gebraucht, um auf die erste Stufe und dann einen Schemel um auf die nächste zu gelangen, um von da aus einen Blick ins Innerste des Fahrerhäuschens zu erhaschen. Zuerst dachte ich an männliche Muskelspiele? Weil er direkt neben Alter Egon`s schwäbischem Fleiß hin geparkt und genauso blitzeblank geputzt… bis auf den Fliegenschiss an der Fahrerscheibe hie wie da. Aber nein, der Riesentrecker kam anderntags und seitdem täglich in Einsatz. Bauer Hauke arbeitete sich unermüdlich vor und neben unseren Fenstern auf seinen Feldern ab. Von frühmorgens bis tief in die Nacht hörte ich seinen Trecker.
Erst um Schlag Mitternacht macht er Feierabend, bevor er fünf Stunden später wieder über die Felder fährt:
"Ich muss das schöne Wetter [zum Einbringen des Heues]nutzen" - meinte er halb entschuldigend, halb erklärend zu mir, als er gestern Vormittag, es mag gegen zehn gewesen sein, mit einem Sträußchen Wiesenblumen auf der Veranda, auf die es, von unserer Wohnküche hinaus geht, stand.
"Für Euch – ein kleiner Blumengruß zum Abschied" – sprach er und kam strumpfsockig herein, die Bauerngummistiefel draußen auf der Treppe stehen lassend. Noch ehe ich ihn herein gebeten, schritt er schon wie selbstverständlich hinüber zum Waschbecken, nahm aus dem obersten Schrankfach eine kleine Glasvase, spülte sie aus, füllte sie gerade halb mit Wasser und zupfte seine frisch gepflückten Blumen auseinander und drapierte sie eine nach der anderen hinein. Ein kleines buntes Sträußchen entstand, liebevoll zurecht gemacht. Währenddessen stand ich mit offenem Mund, verblüfft daneben:
Der Bauer, dessen Handteller so groß wie Bratpfannen sind, und in dessen einer Hand die meinige beim Händedruck versinkt wie in einem Wattebausch, zupft vorsichtig zartblättrige, kleine Wiesenblumen zurecht und arrangiert sie so liebevoll wie es sonst nur ein Gärtner vermag.
"Bei uns zu Hause steht in jedem Zimmer einer. Als Mutter noch jünger war, gab es sogar für jeden von uns einen bunten Blumenstrauß ans Bett, aber das macht ihr mittlerweile zu viel Mühe" – erzählt er mir, während er die Blumen drapiert. Muttern ist immerhin schon an die neunzig. Bereits an unserem ersten Aufenthaltstag, als wir bei ihnen die Milch holen, lernen wir sie kennen, eine scheue Frau, schmächtig, drahtig, immer noch zupackend, sie holte ihn herbei, da wir die Milchkauf-Spielregeln, die hier oben andere als bei uns am Neckar sind, noch nicht kannten.
Seitdem durften wir uns aus dem Milchtank mit der großen Schöpfkelle selbst die eineinhalb bis zwei Liter, die wir jeden zweiten Tag holten, schöpfen. Einen Euro nimmt Hauke für eine Milchkanne voll. Ja, eine ganze Milchkanne. Eine dieser alten verbeulten aus Blech, so wie sie manch eine[r] von Ihnen, liebe Leser[innen] noch aus Kindertagen kennt. Jedenfalls erinnere ich mich auf unserer Radlfahrt zum Bauern durch die grasig duftenden, weil frisch abgemähten, Wiesen an die Kindertage in der Waldheimat, als ich beim Mühl[en]bauer[n] auch jeden zweiten Tag Milch holen "durfte". Nur mit dem Unterschied, dass es hier oben in Friesland immer noch so ist und man – früher das "Fuffzgerl“ [für eine Kanne voll], heute - den Euro einfach auf den Fenstersims [hinter dem Tank] [ab]legt.
Wie in der Waldheimat gibt es hier auch Wiesen satt. So weit das Auge reicht. Sumpfwiesen. Sehr nasse Wiesen, in denen einer mit einem solchen Riesentrecker einsinkt, wenn er nicht weiß, wie er ihn zu lenken hat. Aber Hauke weiß das. Obwohl er kein Ostfriese ist. Er ist ein "Zuagroaster" [tät man in der Waldheimat sagen] – ein "Nei`gschmeckter" [hieße es im Schwobaländle] – wie es hier oben heißt… ich grüble beim Schreiben kurz darüber, weiß es aber nicht… ich glaube, die sagen hier "Zugezogener"!?. Jedenfalls hörte ich das Wort öfters, von denen, die hier – wie Hauke – "zugezogen":
Die nette Apothekerin [aus dem Münsterland vor sieben Jahren ins Watt zugezogen], die ich um Rat fragte, nachdem mich "ein Tier" in den Fußballen gebissen, jenen des großen Zeh`s, als wir vorgestern übers Watt liefen.
Der Lieblingswirt vom "Ebbe und Flut“, bei dem es den schönsten Sonnenuntergang mit Blick übers Watt zu gucken gibt. Bei dem ich so gern den Matrosenteller [überbackener Seelachs mit Tintenfischringen und Bratkartoffeln mit Speck an gemischten Salat] und Alter Egon die Friesenscholle [übersät von einer Ladung voller Krabben nebst Bratkartoffeln mit Speck ohne Salat, den gabs dafür vorweg] aß, vor fünf Jahren aus Hessen zugezogen.
Die nette Kellnerin von der gemütlichen Gastwirtschaft nebenan, wo es mindestens ein Dutzend verschiedener Windbeutel für sage und schreibe zwei Euro fünfzig das Stück inklusive selbst gemachter Himbeer-, Kirsch- oder Erdbeersoße, einer Vanilleeiskugel und Sahne "satt“ gibt – von der Ostsee vor drei Jahren zugezogen.
Die Buchhändlerin, die gerade ihre erste Küstensaison hat, aus Berlin angelandet.
Die Heilpraktikerin aus Hamburg, seit acht Jahren an der Küste.
Die niedersächsische Stationsärztin aus der Ambulanz, die schon einmal hier lebte, gern wieder hierher ziehen möchte, und bis zur frei werdenden passenden Arztstelle jede freie Minute hier im eigenen Bauernhäuschen verbringt. Der Beispiele ließen sich fortsetzen.
Jedenfalls nahm ich die biografischen Kurzgeschichten der "Zugezogenen“ mit hochgezogenen Augenbrauen erstaunt zur Kenntnis. Dachte ich doch, ich hätte es hier rundweg mit lauter Einheimischen zu tun.
"Nein, nein, wir sind erst vor zwanzig Jahren zugezogen, haben den Hof zuerst nur gepachtet, erst seit ein paar Jahren gehört er uns“, klärt mich Bauer Hauke beim Milchholen auf. Aus dem Ostwestfälischen stamme man, sei auch nicht aus der Landwirtschaft, habe man sich alles autodidaktisch angeeignet, die Mutter, der Vater, die Schwester, er selbst. Ich bin sprachlos.
Wie kommt einer dazu, sich hier oben anzusiedeln, frage ich mich mehr als einmal; einfach etwas Neues zu starten!?
Übrigens – außer jenen, welche ich kennenlernte, die in den medizinischen oder Heilberufen tätig sind, haben alle anderen zuvor andere Berufe ausgeübt.
Interessant auch, dass die einen - viele Einheimische - die Region verlassen, während andere, eben aus anderen [o.k. immerhin „norddeutschen“] Regionen herüber oder hinauf ziehen.
"Die Motivation der Zugereisten kann ich gut nachvollziehen“ – denke ich mir an diesem heutigen Morgen, als ich erneut nachdenke, über diesen friesischen Fleiß, der mir sonst nur als sog. "Schwaben“-Fleiß bekannt, und ich Hauke`s Trecker über die Wiesen ackern höre.
Die Motivation, die Zelte anderswo abzubrechen, und sie hier aufzustellen oder in vorhandene Zelte einzuziehen – womit sie zusammenhängt?
Vielleicht mit der Flucht vor der städtischen Hektik?
Die Flucht vor der deutschen Großstadtkrake, die ihre Arme immer weiter in die Peripherie der sie umgebenden Speckgürtel und ihrer ländlichen Besiedlung hinaus streckt und den einzelnen leise einnimmt und unter sich verschlingt?
Mit Grauen denke ich an den Lärm der uns umgebenden Straßen zuhause, die Enge der näher rückenden Häuser aus den umliegenden Baugebieten, die Baulücken, die im Großraum Stuttgart aufgrund der Wohnungsnot mit Mehrfamilienspännern zugestopft werden ohne Rücksicht darauf, ob sich ein Objekt in die bestehende Besiedlung einfügt oder nicht [ein baurechtlicher Grundsatz, der seit den Nuller Jahren zunehmend in Vergessenheit gerät]. Obwohl heute noch fern, graut es mir vor den Menschenmassen, die sich ab dieser Woche am Neckarstrand bei vielen mit dem Ende des süddeutschen Sommerurlaubs und der Schulferien und dem Beginn der Schule, in die S-Bahnen und öffentlichen Busse ergießen. Allüberall die Drucketse.
An die stundenlangen Fahrten infolge verstopfter Straßen werden wir uns erst wieder zu gewöhnen haben, an die langen Schlangen an der Kasse, wenn im durch getakteten Arbeitsalltag keine Zeit mehr zum gemütlichen Einkauf auf dem vormittäglichen Markt bleibt.
Ich schiebe die Gedanken weg und lausche hinein in den nächtlichen Morgen.
Hauke`s Trecker-Geräusche werden leiser, entfernen sich in Richtung des Windparks.
"Vermutlich arbeitet er so fleissig, weil seine Felder unmittelbar ans UNESCO-Welterbe-Naturparkgebiet angrenzen und er bis vor kurzem wegen der sich hier eingenisteten Vögel nicht arbeiten konnte“ – denke ich vor mich hin.
"[Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt“ – klingt es beinahe hämisch kommentierend durchs weit geöffnete Schlafzimmerfenster herein - von den großen Windrädern, die dem Takt des auffrischenden Windes aus westlicher Richtung, aus Richtung Nordsee, folgen und den Strom produzieren, der uns Südländer dereinst – wenn alle Leitungen stehen – mit [günstigem?] Ökostrom versorgen soll.
"[Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt – günstiger Ökostrom? Jetzt sind erst mal die hier oben dran“ – scheinen mir die Windräder ins Ohr zu singen.
An jeder Ecke, in der Nähe jedes noch so kleinen Küstendorfes entstehen sie – diese Windparks – an Land ebenso… wie offshore – draußen auf hoher See!
Ich gestehe, liebe Leser[innen], mich faszinieren diese Mega-Windräder, die wie Riesen aus einer anderen Zeit hier oben aus dem Boden s[ch]prießen. Das macht dieses weite, flache Land für mich interessanter, weil irgendwie greifbarer. Es lockert auf. Es gibt dem Auge Halt. So wie zuhause im Süddeutschen die [Wein]-[oder]-[Waldheimat]-Berge. Dadurch wird mir die Landschaft immer wieder anders und abwechslungsreicher. Je nach Windrichtung stellen die Rotoren ihre Blätter auf. Manchmal stehen sie auch still. Dann drehen sie sich wieder im Dreiviertel oder Sechsachteltakt:
„Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt“. Das leise Geräusch klingt mir vertraut in den Ohren - wie früher, wenn einer mit der scharfen Klinge einer Sense über das Manns hohe Schilf oder Gras mähte.
Erstaunt hat mich, dass die Parks so nahe am Naturerbe und an der dörflichen Besiedelung stehen. Denn, je nachdem in welche Richtung die Windräder sich drehen, ist dieses Geräusch zu hören oder nicht.
"Nein – unumstritten war das nicht – das gab mächtig Stoff zum Klön`“, meint die einheimische Kellnerin von der "gemütlichen Ecke“ nebenan“ – als ich fragte, ob es Widerstand gegen das Aufstellen der Windräder und gegen die Anlage dieser Windparks in ihrem Dorf gegeben habe. "Gesiegt haben letztlich die Befürworter, wie Sie sehen – und es bringt ja auch Touristen.“
Ja, sie lesen schon richtig, liebe Leser[innen], die ersten zwei- bis dreistündigen Besichtigungstouren - sowohl zu den Offshore-Anlagen auf hoher See [mittels Schiff] oder zu den Testparks vor Bremerhaven [per Bus] - werden bereits angeboten. Ende dieser Woche, ich meine am vierzehnten September, findet in Bremen oder war es doch Bremerhaven, sogar das erste "Casting“ für Job-Interessenten, die sich für eine Tätigkeit in der "Windparkindustrie“ erwärmen könnten, statt. Schade, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr vor Ort bin, ich hätte mir das gerne angesehen. Ob das wohl so abläuft wie Bohlens "Deutschland sucht den [Windenergie]Superstar“? Wahrscheinlich entgeht mir eine ernsthafte Chance!? Immerhin: ich könnte es mir durchaus vorstellen, hier oben zu leben…
wahrscheinlich, weil hier oben überall so eine Art Aufbruchstimmung zu spüren ist – im Gegensatz zur heimischen Stagnation, die zumindest an den Gestaden des Neckars wie Mehltau über allem liegt und eine überschäumende Öko[büro]kratie fröhliche Urständ` feiert, weil seit dem Regierungswechsel alles verboten oder verteuert oder sonstwie vorgeschrieben wird, wie etwas zu tun oder woran sich nun zu halten sei. Eine pausenlose Gängelei und Bevormundung. Jedenfalls empfinden wir – Alter Egon und ich [und wir sind da nicht die einzigen!] das zunehmend so…
Ganz anders hier oben…
da spüre ich es wieder…
dieses Gefühl von der großen Freiheit, dem frei sein, dem Leben nach seinem Gusto! Mit jeder Seebrise wird dieses Lebensgefühl herüber geweht.
Hier an der Küste wird – meiner Beobachtung zufolge - das Motto: "Hier bin ich Mensch, hier will ich sein“ noch gelebt! Nicht nur bei der obligatorischen Kanne Friesentee mit Kluntje und Milchsahne. Hier kann und darf das Menschsein noch [aus]gelebt werden! Hoffentlich bleibt das so!
Ich wünsche es inständig, den Menschen dort und vor allem auch der Natur.
Jedenfalls möchte ich da… bei nächster Gelegenheit wieder sein…
Die Motorengeräusche von Bauer Hauke sind mittlerweile in weiter Ferne verstummt, die Windgeräusche der Windräder vom Durchwirbeln der Luft auch.
Morgendliche Stille legt sich übers Land, nur ab und an vom Schrei eines Käuzchens, einer aufwachenden Wildente oder dem Schnauben der Pferde, die unten auf der Weide noch vor sich hin dösen, unterbrochen.
Leise schlage ich die Bettdecke zurück, schlüpfe zuerst in die Jogginghose, dann in die Freizeitschuhe neben dem Bett, ziehe die Fleecejacke über, schnappe mir meine kleine Canon G10 und laufe los: Ein letztes Mal frühmorgens zum Sonnenaufgang auf den Deich, den weiten Blick übers UNESCO Welterbe Wattenmeer genießend…
und nu?
Gehts wieder heim!
>>Alles gut!?<<
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Ein Morgen, an dem ich - wie die Tage zuvor - gegen fünf Uhr in der Frühe, die Sonne hatte sich noch auf der anderen Seite der Welthalbkugel versteckt, zur blauen Stunde vom lauten Motorengeräusch eines Treckers wach werde. Jedoch nicht irgendeines Treckers. Er ist einer jener Traktorgiganten, die ich bisher nur aus Fernseh- oder Videobeiträgen [wie diesem rosa verlinkten] kenne.
Ich staunte nicht schlecht, als ein solcher vor acht Tagen zum ersten Mal neben unserem Auto stand. Ein PS-Gigant neben dem sich der PKW wie eine Ameise ausnahm. Ich hätte wohl eine kleine Stehleiter gebraucht, um auf die erste Stufe und dann einen Schemel um auf die nächste zu gelangen, um von da aus einen Blick ins Innerste des Fahrerhäuschens zu erhaschen. Zuerst dachte ich an männliche Muskelspiele? Weil er direkt neben Alter Egon`s schwäbischem Fleiß hin geparkt und genauso blitzeblank geputzt… bis auf den Fliegenschiss an der Fahrerscheibe hie wie da. Aber nein, der Riesentrecker kam anderntags und seitdem täglich in Einsatz. Bauer Hauke arbeitete sich unermüdlich vor und neben unseren Fenstern auf seinen Feldern ab. Von frühmorgens bis tief in die Nacht hörte ich seinen Trecker.
Erst um Schlag Mitternacht macht er Feierabend, bevor er fünf Stunden später wieder über die Felder fährt:
"Ich muss das schöne Wetter [zum Einbringen des Heues]nutzen" - meinte er halb entschuldigend, halb erklärend zu mir, als er gestern Vormittag, es mag gegen zehn gewesen sein, mit einem Sträußchen Wiesenblumen auf der Veranda, auf die es, von unserer Wohnküche hinaus geht, stand.
"Für Euch – ein kleiner Blumengruß zum Abschied" – sprach er und kam strumpfsockig herein, die Bauerngummistiefel draußen auf der Treppe stehen lassend. Noch ehe ich ihn herein gebeten, schritt er schon wie selbstverständlich hinüber zum Waschbecken, nahm aus dem obersten Schrankfach eine kleine Glasvase, spülte sie aus, füllte sie gerade halb mit Wasser und zupfte seine frisch gepflückten Blumen auseinander und drapierte sie eine nach der anderen hinein. Ein kleines buntes Sträußchen entstand, liebevoll zurecht gemacht. Währenddessen stand ich mit offenem Mund, verblüfft daneben:
Der Bauer, dessen Handteller so groß wie Bratpfannen sind, und in dessen einer Hand die meinige beim Händedruck versinkt wie in einem Wattebausch, zupft vorsichtig zartblättrige, kleine Wiesenblumen zurecht und arrangiert sie so liebevoll wie es sonst nur ein Gärtner vermag.
"Bei uns zu Hause steht in jedem Zimmer einer. Als Mutter noch jünger war, gab es sogar für jeden von uns einen bunten Blumenstrauß ans Bett, aber das macht ihr mittlerweile zu viel Mühe" – erzählt er mir, während er die Blumen drapiert. Muttern ist immerhin schon an die neunzig. Bereits an unserem ersten Aufenthaltstag, als wir bei ihnen die Milch holen, lernen wir sie kennen, eine scheue Frau, schmächtig, drahtig, immer noch zupackend, sie holte ihn herbei, da wir die Milchkauf-Spielregeln, die hier oben andere als bei uns am Neckar sind, noch nicht kannten.
Seitdem durften wir uns aus dem Milchtank mit der großen Schöpfkelle selbst die eineinhalb bis zwei Liter, die wir jeden zweiten Tag holten, schöpfen. Einen Euro nimmt Hauke für eine Milchkanne voll. Ja, eine ganze Milchkanne. Eine dieser alten verbeulten aus Blech, so wie sie manch eine[r] von Ihnen, liebe Leser[innen] noch aus Kindertagen kennt. Jedenfalls erinnere ich mich auf unserer Radlfahrt zum Bauern durch die grasig duftenden, weil frisch abgemähten, Wiesen an die Kindertage in der Waldheimat, als ich beim Mühl[en]bauer[n] auch jeden zweiten Tag Milch holen "durfte". Nur mit dem Unterschied, dass es hier oben in Friesland immer noch so ist und man – früher das "Fuffzgerl“ [für eine Kanne voll], heute - den Euro einfach auf den Fenstersims [hinter dem Tank] [ab]legt.
Wie in der Waldheimat gibt es hier auch Wiesen satt. So weit das Auge reicht. Sumpfwiesen. Sehr nasse Wiesen, in denen einer mit einem solchen Riesentrecker einsinkt, wenn er nicht weiß, wie er ihn zu lenken hat. Aber Hauke weiß das. Obwohl er kein Ostfriese ist. Er ist ein "Zuagroaster" [tät man in der Waldheimat sagen] – ein "Nei`gschmeckter" [hieße es im Schwobaländle] – wie es hier oben heißt… ich grüble beim Schreiben kurz darüber, weiß es aber nicht… ich glaube, die sagen hier "Zugezogener"!?. Jedenfalls hörte ich das Wort öfters, von denen, die hier – wie Hauke – "zugezogen":
Die nette Apothekerin [aus dem Münsterland vor sieben Jahren ins Watt zugezogen], die ich um Rat fragte, nachdem mich "ein Tier" in den Fußballen gebissen, jenen des großen Zeh`s, als wir vorgestern übers Watt liefen.
Der Lieblingswirt vom "Ebbe und Flut“, bei dem es den schönsten Sonnenuntergang mit Blick übers Watt zu gucken gibt. Bei dem ich so gern den Matrosenteller [überbackener Seelachs mit Tintenfischringen und Bratkartoffeln mit Speck an gemischten Salat] und Alter Egon die Friesenscholle [übersät von einer Ladung voller Krabben nebst Bratkartoffeln mit Speck ohne Salat, den gabs dafür vorweg] aß, vor fünf Jahren aus Hessen zugezogen.
Die nette Kellnerin von der gemütlichen Gastwirtschaft nebenan, wo es mindestens ein Dutzend verschiedener Windbeutel für sage und schreibe zwei Euro fünfzig das Stück inklusive selbst gemachter Himbeer-, Kirsch- oder Erdbeersoße, einer Vanilleeiskugel und Sahne "satt“ gibt – von der Ostsee vor drei Jahren zugezogen.
Die Buchhändlerin, die gerade ihre erste Küstensaison hat, aus Berlin angelandet.
Die Heilpraktikerin aus Hamburg, seit acht Jahren an der Küste.
Die niedersächsische Stationsärztin aus der Ambulanz, die schon einmal hier lebte, gern wieder hierher ziehen möchte, und bis zur frei werdenden passenden Arztstelle jede freie Minute hier im eigenen Bauernhäuschen verbringt. Der Beispiele ließen sich fortsetzen.
Jedenfalls nahm ich die biografischen Kurzgeschichten der "Zugezogenen“ mit hochgezogenen Augenbrauen erstaunt zur Kenntnis. Dachte ich doch, ich hätte es hier rundweg mit lauter Einheimischen zu tun.
"Nein, nein, wir sind erst vor zwanzig Jahren zugezogen, haben den Hof zuerst nur gepachtet, erst seit ein paar Jahren gehört er uns“, klärt mich Bauer Hauke beim Milchholen auf. Aus dem Ostwestfälischen stamme man, sei auch nicht aus der Landwirtschaft, habe man sich alles autodidaktisch angeeignet, die Mutter, der Vater, die Schwester, er selbst. Ich bin sprachlos.
Wie kommt einer dazu, sich hier oben anzusiedeln, frage ich mich mehr als einmal; einfach etwas Neues zu starten!?
Übrigens – außer jenen, welche ich kennenlernte, die in den medizinischen oder Heilberufen tätig sind, haben alle anderen zuvor andere Berufe ausgeübt.
Interessant auch, dass die einen - viele Einheimische - die Region verlassen, während andere, eben aus anderen [o.k. immerhin „norddeutschen“] Regionen herüber oder hinauf ziehen.
"Die Motivation der Zugereisten kann ich gut nachvollziehen“ – denke ich mir an diesem heutigen Morgen, als ich erneut nachdenke, über diesen friesischen Fleiß, der mir sonst nur als sog. "Schwaben“-Fleiß bekannt, und ich Hauke`s Trecker über die Wiesen ackern höre.
Die Motivation, die Zelte anderswo abzubrechen, und sie hier aufzustellen oder in vorhandene Zelte einzuziehen – womit sie zusammenhängt?
Vielleicht mit der Flucht vor der städtischen Hektik?
Die Flucht vor der deutschen Großstadtkrake, die ihre Arme immer weiter in die Peripherie der sie umgebenden Speckgürtel und ihrer ländlichen Besiedlung hinaus streckt und den einzelnen leise einnimmt und unter sich verschlingt?
Mit Grauen denke ich an den Lärm der uns umgebenden Straßen zuhause, die Enge der näher rückenden Häuser aus den umliegenden Baugebieten, die Baulücken, die im Großraum Stuttgart aufgrund der Wohnungsnot mit Mehrfamilienspännern zugestopft werden ohne Rücksicht darauf, ob sich ein Objekt in die bestehende Besiedlung einfügt oder nicht [ein baurechtlicher Grundsatz, der seit den Nuller Jahren zunehmend in Vergessenheit gerät]. Obwohl heute noch fern, graut es mir vor den Menschenmassen, die sich ab dieser Woche am Neckarstrand bei vielen mit dem Ende des süddeutschen Sommerurlaubs und der Schulferien und dem Beginn der Schule, in die S-Bahnen und öffentlichen Busse ergießen. Allüberall die Drucketse.
An die stundenlangen Fahrten infolge verstopfter Straßen werden wir uns erst wieder zu gewöhnen haben, an die langen Schlangen an der Kasse, wenn im durch getakteten Arbeitsalltag keine Zeit mehr zum gemütlichen Einkauf auf dem vormittäglichen Markt bleibt.
Ich schiebe die Gedanken weg und lausche hinein in den nächtlichen Morgen.
Hauke`s Trecker-Geräusche werden leiser, entfernen sich in Richtung des Windparks.
"Vermutlich arbeitet er so fleissig, weil seine Felder unmittelbar ans UNESCO-Welterbe-Naturparkgebiet angrenzen und er bis vor kurzem wegen der sich hier eingenisteten Vögel nicht arbeiten konnte“ – denke ich vor mich hin.
"[Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt“ – klingt es beinahe hämisch kommentierend durchs weit geöffnete Schlafzimmerfenster herein - von den großen Windrädern, die dem Takt des auffrischenden Windes aus westlicher Richtung, aus Richtung Nordsee, folgen und den Strom produzieren, der uns Südländer dereinst – wenn alle Leitungen stehen – mit [günstigem?] Ökostrom versorgen soll.
"[Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt – günstiger Ökostrom? Jetzt sind erst mal die hier oben dran“ – scheinen mir die Windräder ins Ohr zu singen.
An jeder Ecke, in der Nähe jedes noch so kleinen Küstendorfes entstehen sie – diese Windparks – an Land ebenso… wie offshore – draußen auf hoher See!
Ich gestehe, liebe Leser[innen], mich faszinieren diese Mega-Windräder, die wie Riesen aus einer anderen Zeit hier oben aus dem Boden s[ch]prießen. Das macht dieses weite, flache Land für mich interessanter, weil irgendwie greifbarer. Es lockert auf. Es gibt dem Auge Halt. So wie zuhause im Süddeutschen die [Wein]-[oder]-[Waldheimat]-Berge. Dadurch wird mir die Landschaft immer wieder anders und abwechslungsreicher. Je nach Windrichtung stellen die Rotoren ihre Blätter auf. Manchmal stehen sie auch still. Dann drehen sie sich wieder im Dreiviertel oder Sechsachteltakt:
„Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt- [Pppp]fffftt“. Das leise Geräusch klingt mir vertraut in den Ohren - wie früher, wenn einer mit der scharfen Klinge einer Sense über das Manns hohe Schilf oder Gras mähte.
Erstaunt hat mich, dass die Parks so nahe am Naturerbe und an der dörflichen Besiedelung stehen. Denn, je nachdem in welche Richtung die Windräder sich drehen, ist dieses Geräusch zu hören oder nicht.
"Nein – unumstritten war das nicht – das gab mächtig Stoff zum Klön`“, meint die einheimische Kellnerin von der "gemütlichen Ecke“ nebenan“ – als ich fragte, ob es Widerstand gegen das Aufstellen der Windräder und gegen die Anlage dieser Windparks in ihrem Dorf gegeben habe. "Gesiegt haben letztlich die Befürworter, wie Sie sehen – und es bringt ja auch Touristen.“
Ja, sie lesen schon richtig, liebe Leser[innen], die ersten zwei- bis dreistündigen Besichtigungstouren - sowohl zu den Offshore-Anlagen auf hoher See [mittels Schiff] oder zu den Testparks vor Bremerhaven [per Bus] - werden bereits angeboten. Ende dieser Woche, ich meine am vierzehnten September, findet in Bremen oder war es doch Bremerhaven, sogar das erste "Casting“ für Job-Interessenten, die sich für eine Tätigkeit in der "Windparkindustrie“ erwärmen könnten, statt. Schade, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr vor Ort bin, ich hätte mir das gerne angesehen. Ob das wohl so abläuft wie Bohlens "Deutschland sucht den [Windenergie]Superstar“? Wahrscheinlich entgeht mir eine ernsthafte Chance!? Immerhin: ich könnte es mir durchaus vorstellen, hier oben zu leben…
wahrscheinlich, weil hier oben überall so eine Art Aufbruchstimmung zu spüren ist – im Gegensatz zur heimischen Stagnation, die zumindest an den Gestaden des Neckars wie Mehltau über allem liegt und eine überschäumende Öko[büro]kratie fröhliche Urständ` feiert, weil seit dem Regierungswechsel alles verboten oder verteuert oder sonstwie vorgeschrieben wird, wie etwas zu tun oder woran sich nun zu halten sei. Eine pausenlose Gängelei und Bevormundung. Jedenfalls empfinden wir – Alter Egon und ich [und wir sind da nicht die einzigen!] das zunehmend so…
Ganz anders hier oben…
da spüre ich es wieder…
dieses Gefühl von der großen Freiheit, dem frei sein, dem Leben nach seinem Gusto! Mit jeder Seebrise wird dieses Lebensgefühl herüber geweht.
Hier an der Küste wird – meiner Beobachtung zufolge - das Motto: "Hier bin ich Mensch, hier will ich sein“ noch gelebt! Nicht nur bei der obligatorischen Kanne Friesentee mit Kluntje und Milchsahne. Hier kann und darf das Menschsein noch [aus]gelebt werden! Hoffentlich bleibt das so!
Ich wünsche es inständig, den Menschen dort und vor allem auch der Natur.
Jedenfalls möchte ich da… bei nächster Gelegenheit wieder sein…
Die Motorengeräusche von Bauer Hauke sind mittlerweile in weiter Ferne verstummt, die Windgeräusche der Windräder vom Durchwirbeln der Luft auch.
Morgendliche Stille legt sich übers Land, nur ab und an vom Schrei eines Käuzchens, einer aufwachenden Wildente oder dem Schnauben der Pferde, die unten auf der Weide noch vor sich hin dösen, unterbrochen.
Leise schlage ich die Bettdecke zurück, schlüpfe zuerst in die Jogginghose, dann in die Freizeitschuhe neben dem Bett, ziehe die Fleecejacke über, schnappe mir meine kleine Canon G10 und laufe los: Ein letztes Mal frühmorgens zum Sonnenaufgang auf den Deich, den weiten Blick übers UNESCO Welterbe Wattenmeer genießend…
und nu?
Gehts wieder heim!
>>Alles gut!?<<
Teresa HzW - 10. Sep, 17:36 - Rubrik Andern[w]Orts
@Robert