Hoch Tief - eine Jahresbilanz
Von einer literarischen Rarität, nachhaltigen Büchern, fremdsprachigen Fixsternen am deutschen Buchmarkt, ungewöhnlicher Forschungsliteratur und literarischen Highlights, die mich im Jahr 2012 besonders überraschten, möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser, am Vorabend des Neuen Jahres in Form [m]einer Jahres-Rückschau berichten. Nicht zu verschweigen eine belletristische sowie eine essayistische Enttäuschung.
Mein Lesejahr 2012: Hoch und Tief wie im richtigen Leben.
Das nachhaltigste Buch
Das mich am meisten prägende Buch war und ist ein nicht-fiktionales: ein Sachbuch, das ich beim Lesen nicht als Sachbuch wahrgenommen habe; ein Buch das mich selbst nach einem Zwölf-Stunden-Arbeitstag geistig neu belebte und erfrischte. Ein Buch, das mir die Augen öffnete, das mich eine neue Art des Sehens und des Betrachtens lehrte: "A bigger message". Über diese „neue Art des Sehens“ schrieb ich Anfang November bereits in einem Blogeintrag.
Das Buch porträtiert nicht nur den britischen Maler, Grafiker, Bühnenbildner und Fotograf David Hockney, der für seine „bigger pictures“, seine überdimensionalen Landschaftsmalereien, bekannt ist und in seinen Werken verlorene Techniken Alter Meister mit neuen technischen Möglichkeiten wieder entdeckt und zugänglich macht. Das 249 Seiten starke Buch vermittelt einmalige Einblicke in die Arbeitsweise, besser Mal-Weise, und das künstlerische Arbeiten von David Hockney. Von den ersten Seiten des Lesens an spürt man die Ernsthaftigkeit und den gegenseitigen Respekt, mit dem sich der Autor Martin Gayford und sein Protagonist, der proträtierte und von ihm über zehn Jahre lang beobachtete Maler begegnen. Das Buch fußt auf den Interviews, die Gayford in dieser Zeit mit ihm führte. Ein zeitloser Lese-Genuss, der selbst Menschen, mit zwei linken Händen - wie mich – dazu bringt, zu Pinsel und Farbe zu greifen und es einfach mal zu versuchen… das Malen… Meine Entdeckung des Jahres 2012!
Die fremdsprachigen Lese-Überraschungen
Es sind zwei fremdsprachige Schriftsteller, ein zeitgenössischer französischer und ein bereits verstorbener katalanischer, die schon vor einiger Zeit ins Deutsche übersetzt worden sind. Ich entdeckte sie jedoch erst im Laufe dieses Jahres.
"Das graue Heft" von Josep Pla überraschte mich restlos. Es fiel mir in einem kleinen Inhaberinnen geführten Buchladen in die Hände. Ich nahm es mit, weil ich eine längere Wartezeit zu überbrücken hatte. Es entpuppte sich als kleine Lese-Sensation dieses autobiografische Büchlein, in dem der längst verstorbene Autor einen Blick zurück auf Kindheit, Jugend und den Anfang seiner Studentenzeit wirft. Er nimmt den Leser mit in die Semesterferien seiner katalanischen Provinzheimat, macht ihn mit seiner Familie und ihn prägende Personen dieser Zeit bekannt und berichtet darüber, wie es dazu kam, dass er Schriftsteller wurde. Erstaunt und begeistert hat mich die Frische einer Schreibe eines Autors, der Einblick in ein Leben gibt, das bereits über neunzig Jahre zurück liegt. Eine sommerleichte Lektüre auch im Winter, die sich sehr zeitgenössisch und in keinster Weise angestaubt liest, wie man es als Leser zunächst vermuten würde [weil das Biografische anno 1918/1919 datiert].
Eine wahre Entdeckung war und ist für mich „Der Club der unverbesserlichen Optimisten“. Der zeitgenössische Schriftsteller Jean-Michel Guenassia zeichnet darin sowohl das Porträt einer französischen Migranten-Großfamilie und gleich mehrerer mittelosteuropäischer Exilanten als auch das der Verhältnisse im Frankreich Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in Paris. Ein großes gesellschaftspolitisches Buch, das uns in Umrissen [nicht im Detail!] die innenpolitischen Verhältnisse jener Zeit wie auch das Leben in Paris aus der Perspektive eines etwa 15-/16-jährigen Gymnasiasten vor Augen führt: Auf der einen Seite das [Familien]Leben von Michel Marini (dem Migrantensohn italienischer und algerischer Herkunft), dessen Familie es hautnah mit den Folgen des damaligen Algerienkrieges zu tun bekommt. Auf der anderen Seite erlebt Michel, der in seiner Stammkneipe in Kontakt und Freundschaft mit einer Handvoll verfolgter, ausgewiesener, geflüchteter Politiker, Literaten, Künstler, Intellektueller und Querdenker aus den Metropolen des kommunistischen Ostblocks kommt, die andere Seite des damaligen Kalten Krieges. Ein packendes Familien- und Generationenporträt, das dramatische Lebensgeschichten auf 685 Seiten offen legt. Mir haben es vor allem die darin beschriebenen Geschichten der osteuropäischen Emigranten angetan. Guenassia beschreibt realitätsnah die Lebensverläufe [s]einer [fiktionalen Figuren und einer] noch nicht allzu fernen Zeit, die heute eigentlich bei vielen schon wieder in Vergessenheit geraten ist. Ein Buch, das in einer solchen realitätsnahen Schilderung wohl nur von einem französischen Schriftsteller geschrieben werden konnte. Zu Recht hat er dafür bereits 2009 einen der renommiertesten Literaturpreise Frankreichs erhalten, den „Prix Goncourt de Lyceens“.
Die literarische Rarität
Ich hatte es bereits aufgegeben, dieses Buch noch irgendwo zu bekommen: „Beckett in Bayern“ . Weder über den normalen Buchhandel noch über Amazon war es für mich im Verlauf des Jahres aufzutreiben… bis… mich Ende November mein Weg in die alte Waldheimat führte. Dort entdeckte ich es bei einem der ältesten und traditionsreichsten Buchhändler Ostbayerns: beim Bücher Pustet in Regensburg, verborgen zwischen Heimatpoeten, bayerischen Dichtern und Denkern der Waldheimat harrte es meines Kaufes: das 87 Seiten umfassende Büchlein von Steffen Radlmaier. Der fränkische Journalist und Publizist begab sich vor Jahren auf die biografischen Spuren des großen Literaten des absurden Theaters nach Irland und barg dort für die Beckett`sche Anhängerschaft ein literarisches Schmankerl: die „German Diaries“, die deutschen Tagebücher Beckett`s. Es handelt sich dabei um fünf Notizbücher mit rotem Einband und der schwarzen Aufschrift „Memo-Book“ sowie einem schwarzen Notateheft. Diese Tagebücher sind erst nach dem Tode Beckett`s aufgetaucht und nach wie vor ein gut behütetes Geheimnis. Beckett hat in ihnen seine Eindrücke und Gedanken seiner Kunst- und Kultur-Bildungs-Reise, die ihn vom 2.10.1936 bis 30.03.1937 durch Hitlerdeutschland führte, festgehalten. Diese Reise „gilt heute als wesentliche Etappe in seiner Entwicklung zum Schriftsteller und Klassiker des Absurden“ schreibt der Buchautor Radlmaier im Vorwort und „vereinzelt schreibt Beckett auch über sein persönliches Befinden, enthält sich aber weitgehend einer kritischen Beurteilung des Gesehenen und Erlebten. Er hält mit dem Blick des Fremden akribisch fest, was er sieht. Ein Chronist der Ereignisse. Die Reisetagebücher dienten ihm aber nicht nur als Gedächtnisstütze, sondern die täglichen Notate sollten für ihn auch ein Ausweg aus einer Schreibkrise sein.“ Es ist ein besonderer Verdienst von Radlmaier, dass er uns die bayerischen Stationen dieser Beckett-Reise – die Aufenthalte in Bamberg, Staffelstein, Würzburg, Nürnberg, Regensburg und München – zugänglich macht. Ich möchte nicht wissen, welche journalistischen und schriftstellerischen Klimmzüge der Autor dieses Büchleins dafür anstellte. Schließlich sträubt sich der Nachlassverwalter, ein Neffe Becketts, bisher standhaft gegen die Veröffentlichung der Tagebücher seines weltberühmten Onkels. Auch wenn das Büchlein keine weltbewegenden Erkenntnisse preisgibt und Radlmaier selbst schreibt, dass Becketts Reise durch Bayern eher als „kuriose Fußnote der Literaturgeschichte gelten“ mag, war es für mich dennoch ein großer Lese-Genuss. Vielleicht weil ich zwei der von ihm besuchten Orte ebenfalls aufsuchte – allerdings - bevor mir das Büchlein in die Hände fiel.
Die faszinierendste Reiseliteratur
Apropos Reise[n]. Es gibt solche und solche Reiseliteratur und dann noch jene, die auf den ersten Blick gar nicht als Reiseliteratur zu erkennen ist. Dazu zählt der Fußmarsch des bekannten Regisseurs Werner Herzog im Winter 1974 von München über die Schwäbische Alb und durch die badische Tiefebene via Elsass-Lothringen nach Paris. Ein Marsch, der eigentlich eine Pilgerreise war, da Herzog sie nur antrat, weil er dachte, wenn er „auf dem geradesten Weg nach Paris“ gehe und „zu Fuß käme“, werde sie am Leben bleiben – die damals schwer erkrankte Lotte Eisner, die deutsch-französische Filmhistorikerin und Filmkritikerin, ohne die die Regisseure – wie Herzog oder Fassbinder u.v.a. – des neuen deutschen Film es vielleicht nicht geschafft hätten. Sie setzte sich seit den 1960er Jahren für sie ein, die sie wiederum als eine Art „geistige Mutter“ verehrten. Herzogs Büchlein ist die Lektüre vom "Gehen im Eis" schlechthin. Vom Marsch über Eis, durch Schneestürme auf der Schwäbischen Alb, über matschige Feld- und schlammige Ackerwege, über die trostlose, verregnete lothringische Ebene. Der 93 Seiten umfassende Fußmarsch vom 23.11. bis 14.12.1974 wird auf keiner Leseseite langweilig, er entbehrt bisweilen nicht einer gewissen Situationskomik. An manchen Buch-Stellen sieht man Filmszenen von Aguirre, der Zorn Gottes – seinem 1972 erschienenen Abenteuerfilm, der im Urwald des Amazonas spielt – aufsteigen. Mag sein, dass ihn diese Dezembertristesse, die auf vielen Buchseiten greifbar ist, in völlig durchweichter Kleidung auf den Irrwegen nach einer Übernachtungsmöglichkeit Filmfiktionen fantasieren ließ. Andererseits – wer die Dörfer und Orte seines Marsches kennt, zweifelt keinen Augenblick, dass sein Erlebtes so war wie es geschrieben steht: „Hinter Volkertsheim Übernachtung in einem Strohstadel, weit und breit war sonst nichts und so blieb ich, obwohl es erst halb fünf war. Was für eine Nacht. Der Sturm wütete so, dass es die ganze Bude, die fest gebaut war, nur so schüttelte. Regen und Schnee sprühten beim Dachfirst herein und ich grub mich ins Stroh. Einmal wachte ich auf mit einem Tier, das auf meinen Beinen schlief. Als ich mich rührte, erschrak es noch mehr als ich selber. Ich glaube es war eine Katze. Der Sturm wurde so gewalttätig, dass ich mich nicht erinnern kann, je so etwas erlebt zu haben. Ein schwarzer Morgen verdüstert….tiefe jagende Wolken…der Schnee ist gegen die Straßenschilder getrieben… hässliche Straße, dann Zwiefalten, die schwäbische Alb fängt jetzt an, weiter oben ist alles dicht voll Schnee. Eine Bäuerin erzählte mir vom Schneesturm und ich schwieg dazu. Geisingen, da sind die müden Menschen in den verwahrlosten Dörfern, die sich nichts mehr erwarten. Schneestille, die Äcker kommen schwarz unter dem Schnee wieder hervor. In Genkingen schlagen seit Jahren die Türen im Wind. Spatzen sah ich auf einem Misthaufen, der ausgedampft hat. Schmelzwasser rieselt ins Gully. Die Beine gehen.“ Wer weiß, vielleicht geht eine[r] mal [mit]... auf eine ähnliche Reise!? Nur würde ich sie nicht im Winter antreten ;-)
Das beste literarische Forschungsbuch [eine von mir willkürlich und spontan gewählte Bezeichnung!]
Ich gebe zu, nachfolgendes Buch kaufte ich nicht ganz uneigennützig; ich versprach mir eine gewisse Hilfestellung für die eigene literarische Aufarbeitung [m]einer Familiengeschichte: „Das Familiengedächtnis der Wittgensteins“: Es ist eigentlich eine Doktorarbeit über die „verführerischen Lesarten von (auto)biografischen Texten“ [so heißt es im Buch-Untertitel]. Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Nicole L. Immler erstellte die 395 Seiten umfassende Forschungsstudie, die auch den Familien-Stammbaum der Wittgensteins, der Familie des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein, enthält. Ausgehend von seiner Person und seinen Schriften sowie seinen wie auch der Schwester Hermine erstellten Tagebüchern geht die Autorin den Konstruktionsprinzipien von Erzählung, Erinnerung und Identität nach. Sie zeigt die mitunter dramatischen Wechselwirkungen zwischen Autobiografie und Familiengedächtnis und die Verschränkungen von Texten von bzw über Ludwig Wittgenstein auf. Besonders interessant: Ihre Gegenüberstellung der Geschwister Ludwig und Hermine, die die erste Biografin ihres Bruders Ludwig war. Sie geht ausführlich auf Hermine`s Erinnerungen, die sie noch zu Lebzeiten ihres Bruders schrieb, ein. Ein interessantes Buch, das sich jedem empfiehlt, der auf den Spuren [s]einer Familiengeschichte wandelt, kommt man doch zu einigen interessanten Erkenntnissen, die sich auch für die eigene Familien[Erinnerungs]Geschichte verwenden lassen.
Zuguterletzt...
meine Lese-Enttäuschungen dieses Jahres
Es handelt sich dabei um Bücher, die im Verlauf dieses Jahres auf dem Buchmarkt erschienen: Ein[e] fiktionaler [Biografie]Roman und ein non-fiktionaler Essay.
Bei den Frauen:
„Hoppe“ – ein anstrengendes Buch; anstrengend zu lesen angesichts des Sprachstils, der vor sich hin schwurbelt. Ein Buch, das mir zu sehr um eine einzige Person kreist, in dem mir Dialoge zu kurz kommen und das aus einem einzigen [inneren] Bewusstseinsstrom seiner Traumfigur Hoppe zu bestehen scheint. Einige Kritiker priesen es als „Sahnehäubchen“ des Werks seiner gleichnamigen Autorin Felicitas Hoppe und sahen darin das Spiel mit den Identitäten. Sorry! Da gibt es Autor-inn-en, die dieses Spiel mit Wirklichkeit und Traum, Realität und Virtu[al]osität zu jonglieren, besser beherrschen [wie Sie ein Stück weiter oben lesen konnten]. Das Buch war mir bei meiner Erst-Lesung daher eine herbe Enttäuschung! Oder ist es ein Roman, den man erst beim zweiten Lesen besser fassen kann?
Bei den Männern:
„Der Europäische Landbote“ liest sich für mich mehr wie ein aus Brüsseler Kreisen bezahltes Europa politisches Public Relations-Buch, das uns Lesern erklären soll, wie das europapolitische Rad gedreht wird, warum Europa wichtig und unverzichtbar ist und dass die Deutschen immer schon die "Bösen" waren. Robert Menasse, der Autor, verschenkt zweierlei: die Chance zu einem objektiven bürgernahen Blick in den Maschinenraum der Brüsseler Bürokratie oder besser - hinter die Kulissen einflussreicher Organisationen in Europas Verwaltungs-Hauptstadt. Stattdessen be[sch]{t}reibt der Autor eine sehr einseitige [englisch dominierte?] Sichtweise, in der Deutschland nicht gut wegkommt. "Die Wut der Bürger" [wie es übrigens im Buch-Untertitel noch heißt] wird dabei in keinster Weise erklärt. Schade! Diese einäugige Sichtweise eines deutschsprachigen Autors war es, die mich enttäuschte.
Und was kommt....
...was bringt das literarische Jahr 2013?
Einige literarische Errungenschaften liegen bereits auf meinem Büchertisch, liebe Leserinnen und Leser ;-)
... eines ist eben erst erschienen und angelesen, in ein weiteres bin ich intensiv vertieft...
...ein anderes eine literarische Wiederentdeckung und bestellt...
...ein Weiteres noch nicht... aber bald [sobald ich weiß, wie es geht ;-)] als E-Book downgeloaded
...interessante Bücher...
Biografien, Geschichtsgenerationensbücher und... erstmals:
ein Gedichtband sowie mein erstes E-Book
In diesem Sinne...
liebe Leserinnen und liebe Leser-Kommentator[inn]en,
werte Blognachbar[inne]n,
kommen Sie gut heraus...
aus dem alten [literarischen] Jahr
und hinein...
in ein neues spannendes, bereicherndes [Lese-]Jahr 2013
;-)
2032 mal gelesen
Mein Lesejahr 2012: Hoch und Tief wie im richtigen Leben.
Das nachhaltigste Buch
Das mich am meisten prägende Buch war und ist ein nicht-fiktionales: ein Sachbuch, das ich beim Lesen nicht als Sachbuch wahrgenommen habe; ein Buch das mich selbst nach einem Zwölf-Stunden-Arbeitstag geistig neu belebte und erfrischte. Ein Buch, das mir die Augen öffnete, das mich eine neue Art des Sehens und des Betrachtens lehrte: "A bigger message". Über diese „neue Art des Sehens“ schrieb ich Anfang November bereits in einem Blogeintrag.
Das Buch porträtiert nicht nur den britischen Maler, Grafiker, Bühnenbildner und Fotograf David Hockney, der für seine „bigger pictures“, seine überdimensionalen Landschaftsmalereien, bekannt ist und in seinen Werken verlorene Techniken Alter Meister mit neuen technischen Möglichkeiten wieder entdeckt und zugänglich macht. Das 249 Seiten starke Buch vermittelt einmalige Einblicke in die Arbeitsweise, besser Mal-Weise, und das künstlerische Arbeiten von David Hockney. Von den ersten Seiten des Lesens an spürt man die Ernsthaftigkeit und den gegenseitigen Respekt, mit dem sich der Autor Martin Gayford und sein Protagonist, der proträtierte und von ihm über zehn Jahre lang beobachtete Maler begegnen. Das Buch fußt auf den Interviews, die Gayford in dieser Zeit mit ihm führte. Ein zeitloser Lese-Genuss, der selbst Menschen, mit zwei linken Händen - wie mich – dazu bringt, zu Pinsel und Farbe zu greifen und es einfach mal zu versuchen… das Malen… Meine Entdeckung des Jahres 2012!
Die fremdsprachigen Lese-Überraschungen
Es sind zwei fremdsprachige Schriftsteller, ein zeitgenössischer französischer und ein bereits verstorbener katalanischer, die schon vor einiger Zeit ins Deutsche übersetzt worden sind. Ich entdeckte sie jedoch erst im Laufe dieses Jahres.
"Das graue Heft" von Josep Pla überraschte mich restlos. Es fiel mir in einem kleinen Inhaberinnen geführten Buchladen in die Hände. Ich nahm es mit, weil ich eine längere Wartezeit zu überbrücken hatte. Es entpuppte sich als kleine Lese-Sensation dieses autobiografische Büchlein, in dem der längst verstorbene Autor einen Blick zurück auf Kindheit, Jugend und den Anfang seiner Studentenzeit wirft. Er nimmt den Leser mit in die Semesterferien seiner katalanischen Provinzheimat, macht ihn mit seiner Familie und ihn prägende Personen dieser Zeit bekannt und berichtet darüber, wie es dazu kam, dass er Schriftsteller wurde. Erstaunt und begeistert hat mich die Frische einer Schreibe eines Autors, der Einblick in ein Leben gibt, das bereits über neunzig Jahre zurück liegt. Eine sommerleichte Lektüre auch im Winter, die sich sehr zeitgenössisch und in keinster Weise angestaubt liest, wie man es als Leser zunächst vermuten würde [weil das Biografische anno 1918/1919 datiert].
Eine wahre Entdeckung war und ist für mich „Der Club der unverbesserlichen Optimisten“. Der zeitgenössische Schriftsteller Jean-Michel Guenassia zeichnet darin sowohl das Porträt einer französischen Migranten-Großfamilie und gleich mehrerer mittelosteuropäischer Exilanten als auch das der Verhältnisse im Frankreich Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in Paris. Ein großes gesellschaftspolitisches Buch, das uns in Umrissen [nicht im Detail!] die innenpolitischen Verhältnisse jener Zeit wie auch das Leben in Paris aus der Perspektive eines etwa 15-/16-jährigen Gymnasiasten vor Augen führt: Auf der einen Seite das [Familien]Leben von Michel Marini (dem Migrantensohn italienischer und algerischer Herkunft), dessen Familie es hautnah mit den Folgen des damaligen Algerienkrieges zu tun bekommt. Auf der anderen Seite erlebt Michel, der in seiner Stammkneipe in Kontakt und Freundschaft mit einer Handvoll verfolgter, ausgewiesener, geflüchteter Politiker, Literaten, Künstler, Intellektueller und Querdenker aus den Metropolen des kommunistischen Ostblocks kommt, die andere Seite des damaligen Kalten Krieges. Ein packendes Familien- und Generationenporträt, das dramatische Lebensgeschichten auf 685 Seiten offen legt. Mir haben es vor allem die darin beschriebenen Geschichten der osteuropäischen Emigranten angetan. Guenassia beschreibt realitätsnah die Lebensverläufe [s]einer [fiktionalen Figuren und einer] noch nicht allzu fernen Zeit, die heute eigentlich bei vielen schon wieder in Vergessenheit geraten ist. Ein Buch, das in einer solchen realitätsnahen Schilderung wohl nur von einem französischen Schriftsteller geschrieben werden konnte. Zu Recht hat er dafür bereits 2009 einen der renommiertesten Literaturpreise Frankreichs erhalten, den „Prix Goncourt de Lyceens“.
Die literarische Rarität
Ich hatte es bereits aufgegeben, dieses Buch noch irgendwo zu bekommen: „Beckett in Bayern“ . Weder über den normalen Buchhandel noch über Amazon war es für mich im Verlauf des Jahres aufzutreiben… bis… mich Ende November mein Weg in die alte Waldheimat führte. Dort entdeckte ich es bei einem der ältesten und traditionsreichsten Buchhändler Ostbayerns: beim Bücher Pustet in Regensburg, verborgen zwischen Heimatpoeten, bayerischen Dichtern und Denkern der Waldheimat harrte es meines Kaufes: das 87 Seiten umfassende Büchlein von Steffen Radlmaier. Der fränkische Journalist und Publizist begab sich vor Jahren auf die biografischen Spuren des großen Literaten des absurden Theaters nach Irland und barg dort für die Beckett`sche Anhängerschaft ein literarisches Schmankerl: die „German Diaries“, die deutschen Tagebücher Beckett`s. Es handelt sich dabei um fünf Notizbücher mit rotem Einband und der schwarzen Aufschrift „Memo-Book“ sowie einem schwarzen Notateheft. Diese Tagebücher sind erst nach dem Tode Beckett`s aufgetaucht und nach wie vor ein gut behütetes Geheimnis. Beckett hat in ihnen seine Eindrücke und Gedanken seiner Kunst- und Kultur-Bildungs-Reise, die ihn vom 2.10.1936 bis 30.03.1937 durch Hitlerdeutschland führte, festgehalten. Diese Reise „gilt heute als wesentliche Etappe in seiner Entwicklung zum Schriftsteller und Klassiker des Absurden“ schreibt der Buchautor Radlmaier im Vorwort und „vereinzelt schreibt Beckett auch über sein persönliches Befinden, enthält sich aber weitgehend einer kritischen Beurteilung des Gesehenen und Erlebten. Er hält mit dem Blick des Fremden akribisch fest, was er sieht. Ein Chronist der Ereignisse. Die Reisetagebücher dienten ihm aber nicht nur als Gedächtnisstütze, sondern die täglichen Notate sollten für ihn auch ein Ausweg aus einer Schreibkrise sein.“ Es ist ein besonderer Verdienst von Radlmaier, dass er uns die bayerischen Stationen dieser Beckett-Reise – die Aufenthalte in Bamberg, Staffelstein, Würzburg, Nürnberg, Regensburg und München – zugänglich macht. Ich möchte nicht wissen, welche journalistischen und schriftstellerischen Klimmzüge der Autor dieses Büchleins dafür anstellte. Schließlich sträubt sich der Nachlassverwalter, ein Neffe Becketts, bisher standhaft gegen die Veröffentlichung der Tagebücher seines weltberühmten Onkels. Auch wenn das Büchlein keine weltbewegenden Erkenntnisse preisgibt und Radlmaier selbst schreibt, dass Becketts Reise durch Bayern eher als „kuriose Fußnote der Literaturgeschichte gelten“ mag, war es für mich dennoch ein großer Lese-Genuss. Vielleicht weil ich zwei der von ihm besuchten Orte ebenfalls aufsuchte – allerdings - bevor mir das Büchlein in die Hände fiel.
Die faszinierendste Reiseliteratur
Apropos Reise[n]. Es gibt solche und solche Reiseliteratur und dann noch jene, die auf den ersten Blick gar nicht als Reiseliteratur zu erkennen ist. Dazu zählt der Fußmarsch des bekannten Regisseurs Werner Herzog im Winter 1974 von München über die Schwäbische Alb und durch die badische Tiefebene via Elsass-Lothringen nach Paris. Ein Marsch, der eigentlich eine Pilgerreise war, da Herzog sie nur antrat, weil er dachte, wenn er „auf dem geradesten Weg nach Paris“ gehe und „zu Fuß käme“, werde sie am Leben bleiben – die damals schwer erkrankte Lotte Eisner, die deutsch-französische Filmhistorikerin und Filmkritikerin, ohne die die Regisseure – wie Herzog oder Fassbinder u.v.a. – des neuen deutschen Film es vielleicht nicht geschafft hätten. Sie setzte sich seit den 1960er Jahren für sie ein, die sie wiederum als eine Art „geistige Mutter“ verehrten. Herzogs Büchlein ist die Lektüre vom "Gehen im Eis" schlechthin. Vom Marsch über Eis, durch Schneestürme auf der Schwäbischen Alb, über matschige Feld- und schlammige Ackerwege, über die trostlose, verregnete lothringische Ebene. Der 93 Seiten umfassende Fußmarsch vom 23.11. bis 14.12.1974 wird auf keiner Leseseite langweilig, er entbehrt bisweilen nicht einer gewissen Situationskomik. An manchen Buch-Stellen sieht man Filmszenen von Aguirre, der Zorn Gottes – seinem 1972 erschienenen Abenteuerfilm, der im Urwald des Amazonas spielt – aufsteigen. Mag sein, dass ihn diese Dezembertristesse, die auf vielen Buchseiten greifbar ist, in völlig durchweichter Kleidung auf den Irrwegen nach einer Übernachtungsmöglichkeit Filmfiktionen fantasieren ließ. Andererseits – wer die Dörfer und Orte seines Marsches kennt, zweifelt keinen Augenblick, dass sein Erlebtes so war wie es geschrieben steht: „Hinter Volkertsheim Übernachtung in einem Strohstadel, weit und breit war sonst nichts und so blieb ich, obwohl es erst halb fünf war. Was für eine Nacht. Der Sturm wütete so, dass es die ganze Bude, die fest gebaut war, nur so schüttelte. Regen und Schnee sprühten beim Dachfirst herein und ich grub mich ins Stroh. Einmal wachte ich auf mit einem Tier, das auf meinen Beinen schlief. Als ich mich rührte, erschrak es noch mehr als ich selber. Ich glaube es war eine Katze. Der Sturm wurde so gewalttätig, dass ich mich nicht erinnern kann, je so etwas erlebt zu haben. Ein schwarzer Morgen verdüstert….tiefe jagende Wolken…der Schnee ist gegen die Straßenschilder getrieben… hässliche Straße, dann Zwiefalten, die schwäbische Alb fängt jetzt an, weiter oben ist alles dicht voll Schnee. Eine Bäuerin erzählte mir vom Schneesturm und ich schwieg dazu. Geisingen, da sind die müden Menschen in den verwahrlosten Dörfern, die sich nichts mehr erwarten. Schneestille, die Äcker kommen schwarz unter dem Schnee wieder hervor. In Genkingen schlagen seit Jahren die Türen im Wind. Spatzen sah ich auf einem Misthaufen, der ausgedampft hat. Schmelzwasser rieselt ins Gully. Die Beine gehen.“ Wer weiß, vielleicht geht eine[r] mal [mit]... auf eine ähnliche Reise!? Nur würde ich sie nicht im Winter antreten ;-)
Das beste literarische Forschungsbuch [eine von mir willkürlich und spontan gewählte Bezeichnung!]
Ich gebe zu, nachfolgendes Buch kaufte ich nicht ganz uneigennützig; ich versprach mir eine gewisse Hilfestellung für die eigene literarische Aufarbeitung [m]einer Familiengeschichte: „Das Familiengedächtnis der Wittgensteins“: Es ist eigentlich eine Doktorarbeit über die „verführerischen Lesarten von (auto)biografischen Texten“ [so heißt es im Buch-Untertitel]. Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Nicole L. Immler erstellte die 395 Seiten umfassende Forschungsstudie, die auch den Familien-Stammbaum der Wittgensteins, der Familie des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein, enthält. Ausgehend von seiner Person und seinen Schriften sowie seinen wie auch der Schwester Hermine erstellten Tagebüchern geht die Autorin den Konstruktionsprinzipien von Erzählung, Erinnerung und Identität nach. Sie zeigt die mitunter dramatischen Wechselwirkungen zwischen Autobiografie und Familiengedächtnis und die Verschränkungen von Texten von bzw über Ludwig Wittgenstein auf. Besonders interessant: Ihre Gegenüberstellung der Geschwister Ludwig und Hermine, die die erste Biografin ihres Bruders Ludwig war. Sie geht ausführlich auf Hermine`s Erinnerungen, die sie noch zu Lebzeiten ihres Bruders schrieb, ein. Ein interessantes Buch, das sich jedem empfiehlt, der auf den Spuren [s]einer Familiengeschichte wandelt, kommt man doch zu einigen interessanten Erkenntnissen, die sich auch für die eigene Familien[Erinnerungs]Geschichte verwenden lassen.
Zuguterletzt...
meine Lese-Enttäuschungen dieses Jahres
Es handelt sich dabei um Bücher, die im Verlauf dieses Jahres auf dem Buchmarkt erschienen: Ein[e] fiktionaler [Biografie]Roman und ein non-fiktionaler Essay.
Bei den Frauen:
„Hoppe“ – ein anstrengendes Buch; anstrengend zu lesen angesichts des Sprachstils, der vor sich hin schwurbelt. Ein Buch, das mir zu sehr um eine einzige Person kreist, in dem mir Dialoge zu kurz kommen und das aus einem einzigen [inneren] Bewusstseinsstrom seiner Traumfigur Hoppe zu bestehen scheint. Einige Kritiker priesen es als „Sahnehäubchen“ des Werks seiner gleichnamigen Autorin Felicitas Hoppe und sahen darin das Spiel mit den Identitäten. Sorry! Da gibt es Autor-inn-en, die dieses Spiel mit Wirklichkeit und Traum, Realität und Virtu[al]osität zu jonglieren, besser beherrschen [wie Sie ein Stück weiter oben lesen konnten]. Das Buch war mir bei meiner Erst-Lesung daher eine herbe Enttäuschung! Oder ist es ein Roman, den man erst beim zweiten Lesen besser fassen kann?
Bei den Männern:
„Der Europäische Landbote“ liest sich für mich mehr wie ein aus Brüsseler Kreisen bezahltes Europa politisches Public Relations-Buch, das uns Lesern erklären soll, wie das europapolitische Rad gedreht wird, warum Europa wichtig und unverzichtbar ist und dass die Deutschen immer schon die "Bösen" waren. Robert Menasse, der Autor, verschenkt zweierlei: die Chance zu einem objektiven bürgernahen Blick in den Maschinenraum der Brüsseler Bürokratie oder besser - hinter die Kulissen einflussreicher Organisationen in Europas Verwaltungs-Hauptstadt. Stattdessen be[sch]{t}reibt der Autor eine sehr einseitige [englisch dominierte?] Sichtweise, in der Deutschland nicht gut wegkommt. "Die Wut der Bürger" [wie es übrigens im Buch-Untertitel noch heißt] wird dabei in keinster Weise erklärt. Schade! Diese einäugige Sichtweise eines deutschsprachigen Autors war es, die mich enttäuschte.
Und was kommt....
...was bringt das literarische Jahr 2013?
Einige literarische Errungenschaften liegen bereits auf meinem Büchertisch, liebe Leserinnen und Leser ;-)
... eines ist eben erst erschienen und angelesen, in ein weiteres bin ich intensiv vertieft...
...ein anderes eine literarische Wiederentdeckung und bestellt...
...ein Weiteres noch nicht... aber bald [sobald ich weiß, wie es geht ;-)] als E-Book downgeloaded
...interessante Bücher...
Biografien, Geschichtsgenerationensbücher und... erstmals:
ein Gedichtband sowie mein erstes E-Book
In diesem Sinne...
liebe Leserinnen und liebe Leser-Kommentator[inn]en,
werte Blognachbar[inne]n,
kommen Sie gut heraus...
aus dem alten [literarischen] Jahr
und hinein...
in ein neues spannendes, bereicherndes [Lese-]Jahr 2013
;-)
Teresa HzW - 30. Dez, 22:13 - Rubrik Wiederworte
...natürlich niemals nicht, ohne Ihnen, allerliebwerteste, elfengleiche, teuerste, treueste, im Herzen gehütete, in Gedanken begleitete Blogfreundin die herzlichsten Grüße auch zwischen den Zeilen zu vermitteln, verbunden mit den Wünschen für einen geschmeidigen Rutsch in ein Neues Sie rundum bereicherndes Jahr!
Allerherzlichst verbandelt, verbündelt: Ihre Falkin
Mögen Sie weiterhin die erforderliche gestalterische Schaffenskraft für Ihre WerkstART finden,
viele Purzelbäume schlagen
und Ihren[m] L[i]eben viele Glückstage
beschienen sein!
;-)